12.09.2016
Erwerbslosigkeit

Existenzminimum in Gefahr durch Änderungen bei Hartz IV

Existenzminimum in Gefahr durch Änderungen bei Hartz IV

Hartz-IV-Bezieher, die ohne wichtigen Grund ihren festen Arbeitsplatz kündigen oder einen angebotenen Arbeitsplatz nicht annehmen, müssen eventuell die Leistungen zurückzahlen. Das wäre laut den neuen Anweisungen der Bundesagentur für Arbeit möglich. Marion Schick, Referentin für Arbeit und Soziales im Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN lehnt die verschärfte Rückzahlungspflicht ab und nennt die Gründe.

 

Seit Anfang September 2016 ist bekannt, dass die Bundesagentur für Arbeit neue Anweisungen an die Mitarbeitenden in den Jobcentern herausgegeben hat. Sie veranschaulichen, wie Hartz-IV-Empfänger, die ihre Notlage „vorsätzlich oder „grob fahrlässig“ herbeigeführt haben oder, und das ist neu im Gesetz, diese „grob fahrlässig aufrechterhalten, erhöhen oder nicht verringern“,  zur Rückzahlung der erhaltenen Leistungen verpflichtet werden sollen.  Das am 23. Juni 2016 vom Bundestag beschlossene und am 8. Juli 2016 vom Bundesrat zugestimmte neunte Gesetz zur Änderung des SGB II enthält ein Sammelsurium an Rechtsänderungen, die ursprünglich das Ziel hatten, das SGB II zu vereinfachen. Deshalb wird es zuweilen auch kurz als „Rechtsvereinfachungsgesetz“ bezeichnet. Wenn man sich die Änderungen jedoch im Einzelnen anschaut, sieht man neben manchen Vereinfachungen, wie zum Beispiel die Verlängerung des Bewilligungszeitraums von 6 Monaten auf ein Jahr, auch problematische Änderungen, die eher zu einem Mehraufwand an Bürokratie, Überwachung und Kontrolle führen. Insbesondere die Verschärfung des Paragrafen 34 SGB II, d.h. die Regelung zu „Ersatzansprüchen bei sozialwidrigen Verhalten“, kann sich zukünftig nachteilig auf die Situation der Leistungsberechtigten auswirken. Ersatzpflicht bei „sozialwidrigen Verhalten“ Bis zum 1. August diesen Jahres war es den Jobcentern nur möglich, von den Hilfebedürftigen die Rückzahlung der gewährten SGB II Leistungen nach Paragraf 34, SGB II zu verlangen, wenn diese die Hilfebedürftigkeit vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hatten, wie zum Beispiel bei einer grundlosen Kündigung des Arbeitsplatzes. Nach der nun erfolgten Änderung, kann auch bei einem sozialwidrigen Verhalten im laufenden Leistungsbezug, wenn die Hilfebedürftigkeit ohne wichtigen Grund „erhöht, aufrecht erhalten oder nicht verringert wird“ die Rückzahlung der Leistungen verlangt werden. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn während des laufenden Leistungsbezugs ein Familienmitglied der Bedarfsgemeinschaft einen Minijob kündigt oder einen angebotenen Minijob nicht aufnimmt um etwas zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. In diesem Fall kann das Jobcenter einen Ersatzanspruch wegen der erhöhten Leistungszahlung geltend machen und diesen sofort von der laufenden Regelleistung bis zu einer Höhe von 30 Prozent des monatlichen Regelsatzes abziehen. Gefahr: Existenzminimum wird unterschritten Das kann zu einer andauernden Unterschreitung des Existenzminimums der Betreffenden führen. Dies sehen Wohlfahrtsverbände und Kirchen kritisch. Schon im Jahr 2009 hat der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt der EKD (http://www.kwa-ekd.de/der-kirchliche-dienst-in-der-arbeitswelt-kda/) den Aufruf zu einem Sanktionsmoratorium im SGB II mit unterzeichnet, um Kürzungen unter das Existenzminimum zu verhindern. Vorschlag: Positive Anreize schaffen Statt mit immer mehr Sanktionen im SGB II zu arbeiten, sollte überlegt werden, ob nicht positive Anreize ein zielführender Weg sein könnte. So könnte man zum Beispiel Leistungsempfänger*innen, die ihre Eingliederungsvereinbarung erfüllen oder besondere Bewerbungs- und Eingliederungsanstrengungen erbringen mit einem „Weihnachtsgeld“  oder einer 13. Regelleistung am Ende des Jahres honorieren. „Nein“ zur Verschärfung der Rückzahlungspflicht Neben der Unterschreitung des Existenzminimums ist die Verschärfung der Rückzahlungspflicht aus weiteren Gesichtspunkten abzulehnen. Es gibt keine klare Rechtssicherheit. Was genau jeweils als sozialwidriges Verhalten gewertet wird, ist nicht immer eindeutig zu entscheiden. Lt. der fachlichen Weisung der Bundesagentur sollen jeweils der Einzelfall betrachtet, wichtige Gründe berücksichtigt und soziale Härten vermieden werden. Ein Ersatzanspruch soll demnach nur entstehen, wenn für das sozialwidrige Verhalten kein „objektiv wichtiger Grund“ vorliegt, wobei eingeräumt wird, dass es sich bei dem Begriff wichtiger Grund um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, der durch das Jobcenter auszulegen ist. Als Beispiel für das Vorliegen eines wichtigen Grundes wird die Arbeitsplatzaufgabe aus gesundheitlichen Gründen genannt. Offene Punkte – unverhältnismäßig harte Sanktionen Doch, wie krank muss man sein, um kündigen zu können ohne sich sozialwidrig zu verhalten? Welche Atteste müssen da gegebenenfalls vorgelegt werden? Was ist mit Mobbingerfahrungen, sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, die man nicht immer objektiv belegen kann oder belegen möchte. Auch die genannten Beispiele für sozialwidriges Verhalten durch grobe Fahrlässigkeit in den fachlichen Weisungen sind aus meiner Sicht sehr kritisch zu hinterfragen. Einen Kraftfahrer, der infolge einer Trunkenheitsfahrt seinen Führerschein und seinen Arbeitsplatz verliert, noch ein drittes Mal zu strafen, indem man ihm die SGB II Leistungen kürzt erscheint mir unverhältnismäßig hart. Und eine Mutter unter Druck zu setzen, den Vater ihres nichtehelichen Kindes zu benennen, ebenso. Durch unbestimmte Rechtsbegriffe könnten rechtliche Auseinandersetzungen zunehmen Das Arbeiten mit unbestimmten Rechtsbegriffen wird meines Erachtens zweifelslos zu mehr Widersprüchen und sozialgerichtlichen Auseinandersetzungen führen (vgl. Prof. Sell „Aktuelle Sozialpolitik“, http://aktuelle-sozialpolitik.blogspot.de/2016/09/188.html#more). Eine Entwicklung die der ursprünglichen Intention des Gesetzes konträr gegenüber steht. Kritik bereits bei Anhörung des Gesetzes Diese Einschätzung und Kritik ist allerdings nicht neu. Bereits bei der öffentlichen Anhörung des Gesetzentwurfes am 30.05.2016 in Berlin hat die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e.V. (BAGFW), der auch die Diakonie Deutschland angehört, an ablehnende Bewertung zur geplanten Verschärfung der Ersatzansprüche § 34 SGB II abgegeben. In der sie ebenfalls die Verwendung neuer unbestimmter Rechtsbegriffe sowie die Gefahr von Doppelsanktionierungen und einer andauernden Unterdeckung des Existenzminimums kritisiert und betont: „Die BAGFW lehnt die gesetzliche Neuregelung im Interesse der Leistungsberechtigten ab. Wir gehen davon aus, dass diese Regelung zudem nicht zu einer Rechtsvereinfachung, sondern zu einem höherem Prüfaufwand bei den Jobcentern sowie zu vermehrten Widersprüchen und Klagen führen wird.“ (Ausschussdrucksache 18(11)649, S. 16/17)Leider wurden diese Bedenken im weiteren Verlauf des Gesetzverfahrens nicht aufgegriffen. Aus meinen regelmäßigen Kontakten mit Erwerbsloseninitiativen und aus Gesprächen mit Erwerbslosen weiß ich, wie Angst besetzt und konfliktbeladen die Termine mit den Jobcentern erlebt werden. Die weiteren Verschärfungen werden das Klima sicher nicht verbessern. Eine Erfahrung im Jobcenter Eine bestimmte Schilderung geht mir dabei nicht mehr aus dem Kopf. Es ist der Fall, bei dem eine noch minderjährige Schülerin, deren Familie aufstockend Hartz IV Leistungen erhielt, allein zu Terminen ins Jobcenter bestellt wurde. Die Eltern mussten richtig darum kämpfen, bei den Gesprächen ihre Tochter begleiten zu dürfen. Bei einem dieser Termine wollte das Jobcenter die Tochter beispielsweise dazu bewegen, bei Amazon zu arbeiten. Nur durch den großen Einsatz der Eltern gelang es der Tochter, ihren gewünschten Schulweg zu Ende zu gehen und heute in ihrem Wunschberuf zu arbeiten. Schwammig: Kann Wunsch nach weiterführender Schulbildung als sozialwidriges Verhalten gewertet werden? Wer garantiert, dass nicht durch die Verschärfung des § 34 SGB II es demnächst als sozialwidriges Verhalten gewertet wird, wenn ein Schüler, eine Schülerin über 18 Jahre eine weiterführende Schule besuchen möchte, wenn die Schulnoten im Zeugnis dies vielleicht auf den ersten Blick nicht herzugeben scheinen oder eventuell der Berufswunsch gerade wenig am Arbeitsmarkt gefragt ist. Dann könnte das Argument greifen, dass die Hilfebedürftigkeit ohne wichtigen Grund „aufrecht erhalten oder nicht verringert wird“ und die Rückzahlung der Leistungen ab dem 18. Lebensjahr verlangt werden. Zugegeben, dies scheint angesichts der Tatsache, dass im selben Änderungsgesetz erstmals neben „der Eingliederung in Arbeit“ auch ausdrücklich die „Eingliederung in Ausbildung“ als Leistung der Grundsicherung (§ 1 Abs. 3) genannt wird, eher unwahrscheinlich. - Aber eine Sicherheit dafür gibt es nicht.  Infos zum 9. Gesetz zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) finden Sie bei DIP (Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentarische Vorgänge), de, gemeinsamen Informationssystem von Bundestag und Bundesrat. http://dipbt.bundestag.de/extrakt/ba/WP18/721/72159.html

Marion Schick

Referat Arbeit & Soziales, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, ZGV