Perspektiefe 41, Dezember 2016

Europa am Scheideweg

STANDPUNKT: Die Europäische Union (EU) befindet sich in der größten Krise seit ihrem Bestehen. Der bisherige Pfad stetiger Integrationsvertiefung bei gleichzeitiger „Technokrati­sie­rung“ europäischen Regierens wird immer weniger von den Bürgerinnen und Bürgern akzeptiert. Das Brexit-Votum ist der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung. Auch andernorts wird der Protest gegen die EU immer lauter. Das Erstarken rechtspopulistischer Parteien in vielen Mitgliedstaaten speist sich auch aus der wach­senden EU-Verdrossenheit. Warum schwindet die Unter­stützung für den europäischen Integrationsprozess und wie muss sich die EU verändern?

von Dr. Daniel Seikel, Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf Woher kommt die EU-Skepsis?
Die Ursachen für den zunehmenden Unmut über die EU sind vielschichtig und mischen sich auch mit fremdenfeindlichen Abwehr­reflexen, wie die Flüchtlingskrise gezeigt hat. Im Kern jedoch ist die Unzufriedenheit vieler Men­schen eine gesellschaftliche Folge von wachsender sozialer Ungleichheit und gesunkener sozialer Sicherheit. Soziale Unsicherheit schürt nicht nur Abstiegsängste der Mittelschichten und desillusioniert sozial Schwache, sondern sie führt auch zu einer inzwischen weit verbreiteten Eliten- und Politikverdrossenheit. Die soziale Ungleichheit ist natürlich nicht alleine auf die EU zurückzuführen. Es ist im Mehrebenensystem der EU ohnehin selten sachgerecht, nationale und europäische Politik isoliert voneinander zu betrachten. Nichts­desto­trotz lassen sich einige Ursachen eindeutig der europäischen Ebene zuordnen.
Die demokratische Legitimität von politischen Systemen beruht auf zwei Dimensionen: der Input- und der Output-Legitimität. Input-Legitimität entsteht, wenn Bürgerinnen und Bürger über Mög­lich­keiten verfügen, politische Entschei­­dungs­­prozesse möglichst direkt zu beeinflussen, z. B. durch Wahlen. Output-Legitimität entsteht, wenn ein politisches System dazu in der Lage ist, Pro­bleme effektiv zu lösen und die Lebensumstände der Menschen zu verbessern. Die EU schneidet in beiden Dimensionen schlecht ab. Das größte Problem auf der Input-Seite ist das Demokratie­defizit der EU. Das Europäische Parlament (EP) ist das einzige direkt gewählte EU-Organ, verfügt aber nicht wie nationale Parlamente über ein Initia­tiv­recht. Europäische Entscheidungsprozesse sind häufig technokratisch und intransparent. Ausge­rechnet demokratisch allenfalls schwach legitimierte Organe wie die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof (EuGH) nehmen eine bestimmende Rolle ein. Am krassesten äußern sich die Demokratieprobleme bei der Troika. In den betroffenen Ländern (Irland, Griechenland, Portugal, Zypern) werden demokratische Grund­prinzipien grob verletzt. Das Beispiel Griechen­land zeigt, dass Wahlentscheidungen unter dem Diktat der Troika keinen substanziellen politischen Un­terschied mehr machen. Auf der Output-Seite gibt es ebenfalls massive Probleme. Die europäische Integration besteht zu einem großen Teil aus Marktliberalisierung. Marktschaffung und soziale Marktregulierung stehen in einem Missverhältnis. Von dieser Schieflage profitieren vor allem Unter­nehmen. Die Bedürfnisse von Arbeitnehmerinnen Arbeitnehmern werden unterlaufen. Die Euro-Krise hat die Output-Probleme deutlich verschärft. Die harte Sparpolitik hat die Krise in vielen Ländern weiter verstärkt. Der EU wird immer weniger zugetraut, die Lebensumstände der Menschen zu verbessern. Im Gegenteil, die EU wird inzwischen häufig als Ursache für anhaltende wirtschaftliche und soziale Probleme gesehen.
Abbau von sozialen Rechten
Das Verhältnis zwischen europäischer Integration und sozialen Rechten ist problematisch. Dazu ist zwischen der EU im „Normalzustand“ und der EU im „Krisenmodus“ zu unterscheiden.
Im „Normalzustand“ steht vor allem die Recht­sprechung des EuGH in einem Spannungs­ver­hältnis zu kollektiven sozialen Rechten wie der Tarifautonomie, der Unternehmensmitbestimmung oder dem Streikrecht. Da europäisches Recht Vor­rang vor nationalem Recht hat, fungiert der EuGH als Verfassungsgericht der EU. Proble­ma­tisch sind hierbei insbesondere Urteile, die auf den markt­liberalen Grundfreiheiten des Binnenmarkts beruhen (Kapitalverkehrsfreiheit, Warenverkehrs­freiheit, Dienstleistungsfreiheit, Personenfrei­zügig­keit). Sie stehen im Konflikt mit marktkorrigieren­den Institu­tionen der sozialen Demokratie, da diese natur­gemäß wirtschaftliche Freiheiten einschränken.
Noch problematischer ist der „Krisenmodus“ der EU. Die EU hat auf die Krise mit einem Groß­angriff auf die Säulen des Europäischen Sozial­modells (Demokratie, Wohlfahrtsstaat, Tarifauto­nomie) reagiert. Als Gegenleistung für Finanzhilfen mussten sich Troika-Länder zu strikten Reform­programmen verpflichten. Sozialleistungen wurden gekürzt, öffentliches Eigentum privatisiert, das Gesundheitssystem zurückgefahren, Löhne im öffentlichen Dienst reduziert, Mindestlöhne herabgesetzt, Tarifvertragssysteme zerschlagen und Ge­werkschaften geschwächt. Die Folge sind sin­ken­de Löhne, grassierende Obdachlosigkeit und Verarmung sowie eine immer unzureichendere medizinische Versorgung. Das EU-Krisen­manage­ment hat die Lebensbedingungen in mehreren Ländern drastisch verschlechtert. Die schlechte wirtschaftliche Situation ist dabei nicht nur auf Troika-Länder beschränkt. Auch andere Länder wie Italien und Frankreich kämpfen mit schweren wirtschaftlichen Problemen. Verbessert sich die ökonomische und soziale Lage nicht, wird der Rückhalt für den europäischen Integrationsprozess weiter schwinden.
Letztlich führen beide Modi zu einer Beschädi­gung wichtiger sozialer Errungenschaften, die sich auf eine breite demokratische Legitimation stützen. Dadurch läuft die europäische Integration Gefahr, die Zustimmung gerade derjenigen gesellschaftlichen Kräfte einzubüßen, die bisher zu ihren Unterstützern gehörten, wie z. B. Gewerkschaften. Nutznießer einer solchen Entwicklung wären popu­listische Parteien. Ein weiteres Erstarken antieuropäischer Parteien wird zu einer politischen Paralyse der EU führen und jetzt schon zu erkennende Desintegrationstendenzen verstärken. Europa vor sich selbst retten
Um wieder einen positiven Europa-Bezug herzustellen, ist ein Umsteuern notwendig. Zuerst muss die EU den kontraproduktiven Austeritätskurs beenden, um die wirtschaftliche Erholung der Mitgliedsländer nicht länger abzuwürgen. Darüber hinaus müssen die Defizite des „Normalzustandes“ behoben werden. Hierzu wären allerdings weit­reichende Reformen notwendig. Erstens müsste das Binnenmarktrecht seinen Verfassungsrang ver­lieren und zu „einfachem“ Sekundärrecht werden. Zweitens müsste das EP deutlich aufge­wertet werden, indem es das Initiativrecht erhält. Drittens müssten die Entscheidungsprozesse vereinfacht werden. Europäische Gesetze sollten mit einfachen Mehrheiten jeweils im EP und im Rat beschlossen werden. Viertens müsste über eine flexiblere Integrationsweise nachgedacht werden. Opt-Outs würden es auch kleineren Gruppen von Mitgliedstaaten ermöglichen, in ausgewählten Politikfeldern voranzuschreiten. Gleichzeitig ließen sich Debatten über ein Ja oder Nein zur EU-Mitgliedschaft in weniger destruktive Auseinander­setzungen über selektive Opt-Outs kanalisieren. Neben diesen institutionellen Reformen wären auch europaweite soziale Mindeststandards notwendig, die verhindern würden, dass Sozialschutz­niveaus – auch als Folge europäischer Eingriffe – ins Bodenlose sinken. 
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