Perspektiefe 43, September 2017

Wer Demokratie leben will, muss sich einbringen

Interview mit Bürgermeister Joachim Ruppert aus Groß-Umstadt und Annette Claar-Kreh, Referentin für Gesellschaftliche Verantwortung im Ev. Dekanat Vorderer Odenwald.

Das Gespräch führten: Dr. Brigitte Bertelmann, Margit Befurt, ZGV

Was bedeutet Demokratie und Teilhabe auf kommunaler Ebene? 

Ruppert: Teilhabe bedeutet, an Diskussions- und Entscheidungsprozessen beteiligt zu werden. Diese organisieren wir schon seit 1999, z.?B. wenn es um Energiepolitik oder den Flächennut­zungs­plan geht. Aus Beteiligungsprozessen lässt sich Grund­sätzliches erkennen, das bei der Entscheidungs­findung für die Kommune sehr hilfreich ist.
Zum Verständnis parlamentarischer Demo­kratie gehört aber auch, dass die Entscheidung letztlich die Stadtverordnetenversammlung trifft, die noch mehr abwägen muss, als der Einzelne manchmal überblicken kann, wie z.B. den Natur­schutz, die Finanzen oder Gesetzesvorschriften. Da gibt es dann schon mal Differenzen. Und De­mo­kratie bedeutet auch Akzeptanz und Respekt vor den getroffenen Entscheidungen. Das ist heute ein großes Problem. Es kommt häufiger vor, dass Bürgerinnen und Bürger mit Entscheidungen nicht einverstanden sind und schnell das Gefühl haben: „Die da oben machen doch was, sie wollen.“ Das ist nicht so. Deshalb müssen wir die Entscheidungen besser vermitteln und uns dem Konflikt stellen, wie wir es auch von den Kritikern erwarten. Konflikte müssen von beiden Seiten mit offenem Visier ausgetragen werden und nicht, wie so häufig, anonym.

Wie ist das auf Kirchengemeinde-Ebene?

Claar-Kreh: Die Mitglieder der evangelischen Kirche wählen von unten nach oben Vertreterinnen und Vertreter in Gremien beginnend in den Kir­chengemeinden, den Dekanaten und schließlich in die Landessynode, dem höchsten Gremium der Kirche. Das ist grunddemokratisch. Entschei­dun­gen werden wie bei der Stadtverordneten­ver­sammlung im Kirchenvorstand getroffen. Trotz­dem ist es wünschenswert, wenn es gelingt, Beteiligungsmöglichkeiten für Gemeindemitglieder offen zu halten, in Gemeindeversammlungen, Mitarbeitendentreffen oder im direkten Gespräch. Menschen beteiligen sich gerne, wenn sie selbst mitgestalten können. Das macht eine lebendige Gemeinde aus. Nur wenn Pfarrerinnen und Pfarrer einen Blick dafür haben, dass solche Prozesse nötig sind, und sagen, wir sind Kirche in der Welt und müssen uns im Gemeinwesen einbringen, kann Beteiligung gelingen.

Sind Sie hier in der Region mit Rechtsextremismus konfrontiert?

Ruppert: Nein, bis jetzt noch nicht. Man trifft hier und da mal auf Reichsbürger, aber wir haben keine formierte AfD oder NPD in der Kommune. Allerdings ist die AfD in den Kreistag eingezogen. Claar-Kreh: Im Kreis haben wir vor drei Jahren das „Bündnis gegen Braun“ gegründet und das De­kanat Vorderer Odenwald ist Mitglied. Wir haben gespürt, da kommt etwas hoch. Bestimmte Sprü­che sind salonfähig geworden, auch in der Mitte der Gesellschaft. Die AfD und andere nutzen Ängste und Sorgen aus und geben vermeintlich einfache Antworten. Die gemeinsame Aufgabe von Ge­mein­wesen und Kirche ist es, die Men­schen ernst zu nehmen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Das ist auch Seelsorge.

Welche Rolle hat die Kirche in kommunalen Ent­scheidungsprozessen?

Claar-Kreh: Kirchengemeindemitglieder sind immer auch Bürger einer Kommune. Die Rolle des Dekanats ist es meines Erachtens zu schauen, für welche kommunalen Themen Kirche einen Sprach­raum eröffnen und Denkprozesse fördern kann. In Reichelsheim beispielsweise hat die Kirchengemeinde beim heiß umstrittenen und stark polarisierenden Thema Windkraftanlagen ein Forum initiiert, damit die Kontroversen öffentlich ausgetragen werden konnten. Ruppert: Ich erwarte, dass sich Kirche gesellschaftlich positioniert, wie es bei uns in Groß-Umstadt der Fall ist. Eine reine Mediatorenrolle finde ich nicht ausreichend. Ich kenne Pfarrerinnen und Pfarrer, die jegliche Aussage vermeiden, wenn es eng wird – und ich kenne erfreulicherweise auch andere. Demokratie hat aber mit Frei­heit, Meinungsfreiheit und Gerechtigkeit zu tun. Und es gibt genug gesellschaftliche Themen, wo Haltung gezeigt werden muss, wenn gewisse Gren­zen überschritten werden, auch von der Kirche.
Claar-Kreh: Und wenn man sich da raushält, macht man sich überflüssig. Ich glaube, Kirche muss ja nicht die Antworten auf schwierige Fragen geben, sondern sie muss schauen, welche Grund­lagen es für eine Ent­scheidung gibt.

Demokratie heißt auch Mit­machen. Gibt es ge­nügend Ehrenamtliche, die sich für die Belange der Kommune einsetzen oder aktiv in Par­teien und Fraktionen mit­arbeiten?

Ruppert: Wir haben viele gute Leute, die Verant­wor­­tung in Vereinen, Ver­bän­den und bei der Feuer­wehr über­nehmen. Da sind wir gut aufgestellt. Ohne die vielen Ehren­amtlichen wäre beispielsweise die Betreuung der Flüchtlinge überhaupt nicht möglich gewesen. Auch unser kulturelles An­­gebot lebt von dem Engagement der Vereine und Kulturschaffenden, die sich selbst organisieren. Oder die Menschen, die Blumen an den Orts­ein­gang pflanzen, einem eigenen Be­­dürfnis folgend, ohne zu fragen, warum die Stadt das nicht macht.
In der Kommunalpolitik wird es jedoch immer schwieriger, die Listen mit Ehrenamtlichen zu füllen. Besonders junge Menschen fehlen uns, denn aus ihnen entwickelt sich die Zukunft. Das liegt auch an den sich verändernden Le­bens­bedin­gungen. Früher sind die Leute eher an einem Ort geblieben. Heute verlassen junge Menschen ihren Heimatort, wenn sie studieren, finden nach der Ausbildung eine Arbeitsstelle an einem anderen Ort und bleiben dort. Daneben haben viele Menschen keine Zeit mehr und das Freizeitverhalten ist ein anderes. Die hier lebenden Menschen sind so mobil, dass sie beispielsweise in Frankfurt arbeiten und nach Aschaffenburg ins Kino fahren. Auch die Arbeit­geber haben häufig kein Ver­ständnis mehr dafür, wenn sich jemand in der Kommunalpolitik engagiert und deshalb früher gehen muss. Dabei gibt es kaum ein spannenderes Feld als die Kom­munalpolitik mit ihren vielen Themen.
Claar-Kreh: Auch in der Kirche wird es schwieriger, die Listen für die Kirchenvorstandswahlen zu füllen. 22 von 40 Kirchengemeinden im Dekanat Vorderer Odenwald mussten die Anzahl ihrer Kir­chenvorsteher reduzieren. Die Wahl­be­teiligung lag bei etwas über 20 Prozent. 60 Pro­zent der Kir­chenvorstände sind Frauen. Der größte Anteil hat das mittlere Lebensalter erreicht und 2,3 Pro­zent sind über 70 Jahre alt. Um mehr junge Men­schen für die Kirchenvorstandsarbeit zu ge­winnen, hat man die Amtsperiode verkürzt und damit erste Erfolge erzielt. Immerhin sind 6 Pro­zent der Kirchen­vorsteher un­ter 30 Jahren.

Welche Möglichkeiten se­hen Sie für eine Zu­sammen­arbeit zwischen Kom­mune und Kirchen­gemeinde?

Claar-Kreh: Kirchen­ge­mein­­­den haben den gro­ßen Vor­­teil, dass sie Räu­me haben und für Akti­vitäten zur Ver­fügung stellen können, wie z.?B. das Café Global, ein Treff­punkt für Flüchtlinge und Groß-Um­städter. Die Menschen haben das Gefühl, mit­ge­stalten zu kön­nen, sie spüren ihre Zuge­hörigkeit zum Ge­mein­wesen und das hat etwas mit De­mokratie zu tun.
Ruppert: Das nenne ich konstruktive Demokratie. Und wenn ich die leben will, muss ich etwas dazu beitragen, um sie zu gestalten.

Braucht man heute andere Formen der Beteiligung?

Ruppert: Ich glaube bei uns verschließt sich niemand mehr für Menschen, die sich temporär engagieren wollen. Da bieten wir schon viele Möglichkeiten hier bei uns. Claar-Kreh: Das projektorientierte Engagement nimmt auch in der Kirche zu. Ich sehe aber noch eine andere Möglichkeit: Nachbarschaft initiieren. Das könnte zumindest in ländlichen Gemeinden, wenn Infrastruktur abnimmt, immer wichtiger werden.