Perspektiefe 43, September 2017

„Alte“ Vorurteile und „neue“ Krisen – zur Rezeptur des Rechtspopulismus

Im Unterschied zum Rechtsextremismus stellen rechtspopulistische Akteure in der Regel das demokratische System nicht per se in Frage. Nach Jan-Werner Müller lässt sich der schillernde Begriff vom Populismus nicht an bestimmten Wählergruppen mit ihren sozialpsychologischen Profilen oder einem bestimmten Politikstil festmachen; Populismus beinhaltet zunächst auch keine umfangreiche Ideologie.

von Dr. phil. Reiner Becker, Philipps-Universität Marburg, Leiter des Demokratiezentrums im beratungsNetzwerk hessen – gemeinsam für Demokratie und gegen Rechtsextremismus
„Der Rechts­populismus ist aus sehr unter­schied­lichen Gründen nicht die Ursache, son­dern ein Symptom für gesell­schafts­politische Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre.“ 
Dr. phil. Reiner Becker
Die Logik des Populismus besteht vielmehr zentral in anti­elitären und somit in grundsätzlich antipluralistischen Positionen: „Wir – und nur wir – vertreten das wahre Volk.“ Zu den Eliten zählen die Vertreter/innen des etablierten Systems: Politiker/innen, Parteien, Institutionen wie die EU, aber auch gesellschaftlich relevante Institutionen wie die Kirche oder die Medien. Diese vertreten nicht die Interessen „des Volkes“, von denen Populisten annehmen, diese zu kennen und daraus einen exklusiven Alleinvertretungs­anspruch abzu­leiten. Der Populismus stellt also nicht offen die Systemfrage, sondern höhlt es nach und nach von innen aus. Für das Gedeihen des Rechtspopulismus sind gesellschaftliche Krisen das zentrale Grund­nah­rungsmittel. So haben die Banken- und später die Währungskrise (2007) im Euro-Raum zur Grün­dung der Alternative für Deutschland (AfD) im Jahr 2013 geführt. Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015 bescherte der jungen Partei in der Folge einen Wahlerfolg nach dem anderen, so dass die AfD nun in 13 von 16 Landesparlamenten vertreten ist. Doch gleich­zeitig sollte diese Ent­wicklung nicht überraschen, denn das Potenzial für den Erfolg des Rechts­populismus ist schon lange vorhanden: Ver­schie­dene Studien aus der Einstellungs­forschung be­legen seit Anfang der 1980er-Jahre kontinuierlich ein nicht geringes Aus­­maß von Vorurteilen ge­genüber gesellschaftlich schwachen Gruppen eben­so wie das Miss­trauen vieler Menschen gegenüber der Demo­kra­tie. Doch bisher gelang es auf der Bundesebene keiner rechtsextremen oder rechtspopulistischen Partei, dieses Einstel­lungs­potenzial zu binden und in Wählerstimmen umzumünzen. Eine neue Studie des Bielefelder Instituts für Konflikt- und Gewalt­forschung zeigt, dass Menschen, die mit der AFD sympathisieren, im Vergleich zu anderen Bevölke­rungsgruppen überdurchschnittliche Werte bei Fremdenfeind­lichkeit, bei der Abwertung von arbeitslosen Menschen und vor allem bei der Ab­wertung von Flüchtlingen aufweisen. Weiterhin sind rechtspopulistische Einstellungsmuster laut dieser Studie mit einem hohen Maß von Demokra­tiemisstrauen und Law-and-Order-Forderungen verbunden.

Zeitenwende der Demokratie

Die polarisierte Gesellschaft zeigt sich jedoch nicht nur an den Wahlurnen. Das zunehmende Maß von Hassreden in den Sozialen Netzwerken oder das hohe Niveau von Straf- und Gewalttaten gegenüber Geflüchteten, gegenüber Ehrenamt­lichen in der Flüchtlingsarbeit oder gegenüber Kommunalpolitiker/innen zeugen von zunehmen­der Enthemmung. Stete populistische Pro­vo­ka­tionen führen dazu, dass die Grenzen des Sag­baren verschoben wurden. Und: Der Popu­lis­mus ist alles andere als ein deutsches Phä­no­men. Ob die erfolgreiche „Brexit“-Kampagne in Groß­britan­nien oder der mit deutlich populistischen Zügen gewonnene Wahlkampf von Donald Trump in den Vereinigten Staaten – die populistische Ver­su­chung mit dem Feindbild des etablierten demokratischen Systems und der Regression zur homogenen nationalen Gemeinschaft sind starke Zeichen für eine Zeitenwende mit offenem Ausgang.

Unerledigte Hausaufgaben bearbeiten

Doch ist der Rechtspopulismus aus sehr unterschiedlichen Gründen nicht die Ursache, sondern ein Symptom für gesellschaftspolitische Fehl­entwicklungen der vergangenen Jahre. Es verwundert nicht, dass es in Zeiten von vielerlei Krisenentwicklungen leicht zu sein scheint, Men­schen für populistische Ideen zu gewinnen: Stei­gendes Demokratiemisstrauen, ein zunehmendes Working poor trotz niedriger Arbeitslosenzahlen und hohem Wirtschaftswachstum, ein fehlender Diskurs darüber, auf welcher Grundlage eine multikulturellere Gesellschaft zusammenlebt oder die Suggestion, dass Europa und Deutschland trotz globaler Flucht- und Migrationsbewegungen eine befestigte Insel der Glückseligen ist – all dies sind Beispiele für nicht erledigte Hausaufgaben der vergangenen Jahre, die sich nun in Zeiten der Krise ihr populistisches Ventil suchen und ihre Bindung an stark verbreitete Vorurteile finden. 
Was in einer polarisierten Gesellschaft nun zählt, ist nicht gegen rechtspopulistische Wind­müh­­len anzukämpfen, sondern vielmehr die The­men, welche Menschen motiviert, z.?B. die AfD zu wählen, auf Basis der eigenen Werte zu bearbeiten: Wie kann konkret das Zusammenleben vor Ort nach dem Zuzug von Flüchtlingen neu gestaltet werden? Wie kann Demokratie wieder erfahrbar werden? Wie können Fragen der sozialen Ge­rech­tig­keit (Arbeits- und Wohnungsmarkt, Kin­der­gar­ten­­plätze usw.), für alle davon betroffenen Men­­schen beantwortet werden und was ist in einer pluralen und individualisierten Gesellschaft der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, wenn es nicht die tumbe Vorstellung einer ethnisch homogenen, nationalistisch geprägten Ge­mein­schaft ist?