Perspektiefe 43, September 2017

In der pluralen Gesellschaft ist die Stimme der Kirche eine von vielen – zu Kirche und Staat und Kirche und Demokratie

Staat und Kirche sind in Deutschland getrennt. Das Grund­gesetz verweist dazu auf entsprechende Artikel aus der Weimarer Verfassung aus dem Jahr 1919. Diese sind Bestandteil des Grundgesetzes. Die ehemaligen Staats­kirchen, die evangelische und die katholische Kirche, wurden fortan als „Religions­gesellschaften“ behandelt. Das Staatskirchenrecht ist so im Kern ein Religions­­verfassungs­recht. Es steht allen Religionen und Welt­anschau­ungs­gemeinschaften offen.

Von Dr. Dr. h.c. Volker Jung, Kirchenpräsident der Ev. Kirche in Hessen und Nassau

„Alle Christinnen und Christen sind heraus­gefordert, als Bürgerinnen und Bürger den Staat selbst mitzugestalten.“ 
Dr. Dr. h.c. Volker Jung
Der Staat garantiert die Freiheit der Religions­ausübung und gibt den Religionsgesell­schaften zugleich das Recht, ihre eigenen Angelegenheiten selbstbestimmt zu regeln. Dabei sind sie frei, solange sie sich „in den Schranken des für alle geltenden Gesetzes“ bewegen. Zu diesen Regelungen gehört auch, dass die Kirchen wie andere Religions- und Weltanschauungs­ge­meinschaften, wenn sie sich denn entsprechend organisieren, einen besonderen Status haben. Sie sind „Körperschaften des öffentlichen Rechtes“. Damit sind bestimmte Rechte verbunden, wie etwa das Recht, Steuern zu erheben. Die Trennung von Staat und Kirche ist in Deutschland nicht so strikt, wie beispielsweise in Frankreich. Die deutsche Konstruktion basiert auf einer Trennung, die aber zugleich auf Zusammen­arbeit setzt. Zum Beispiel ist in fast allen deutschen Bundesländern der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach in den Schulen. Der Staat ist für die organisatorische Seite verantwortlich, die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften für die inhaltliche Seite. Jeder Kooperation von Staat und Kirche in Deutschland liegt heute aber die prinzipielle Trennung zugrunde. Das heißt: Der Staat ist keine Kirche und die Kirche erhebt keine Ansprüche auf staatliche Macht.

Trennung von Kirche und Staat

Der Historiker Heinrich August Winkler sieht eine Schlüsselszene für die Trennung von Kirche und Staat im Neuen Testament. Es ist die Geschichte, in der Jesus gefragt wird, ob es recht ist, dem Kaiser Steuer zu zahlen, oder ob man dies nicht auch lassen könne. Jesus lässt sich einen Silber­groschen bringen und fragt: „Wessen Bild und Aufschrift ist das?“ Die Antwort lautet: „Des Kaisers.“ Und dann kommt jener berühmte Satz von Jesus: „So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!“ (Markus 12,14–17). Der Kaiser erhob damals einen göttlichen Anspruch. Hätte Jesus einfach „Ja“ gesagt, dann wäre der Vorwurf gewesen: Er schätzt den Kaiser höher als Gott ein. Hätte er einfach „Nein“ gesagt, dann wäre es der Aufruf gewesen, die staatliche Macht nicht zu akzeptieren und gegen sie vorzugehen. Mit seiner Antwort erkennt Jesus den politischen Machtanspruch des Kaisers an. Zugleich begrenzt er ihn auch, weil er sagt, dass es auch einen Anspruch Gottes gibt. Winkler sagt dazu: „Die Gegenüberstellung von Gott und Kaiser lief nicht auf Äquidistanz, also auf gleichen Abstand zu beiden hinaus, ebenso wenig auf Gleich­rangigkeit. Der absolute Vorrang Gottes stand für den Antwortenden außer Frage. Seine Replik schloss aber eine Absage an jede Art von Theo­kratie oder Priesterherrschaft ein. Die Ausdiffe­renzierung von göttlicher und irdischer Herrschaft bedeutete die Begrenzung und Bestätigung der letzteren: Begrenzung, da ihr keine Verfügung über die Sphäre des Religiösen zugestanden wird; Bestätigung, da der weltlichen Gewalt Eigen­stän­digkeit zukommt. Das war noch nicht die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt; diese wurde erst rund tausend Jahre später vollzogen. Aber die Antwort auf die Fangfrage war doch die Ver­kündigung eines Prinzips, in dessen Logik die Trennung lag.“  
Winkler beschreibt in seiner „Geschichte des Westens“ die Entwicklung hin zu den Menschen­rechten und zur Demokratie als große Lern­geschichte. Auch für die Kirchen war es ein langer Weg. Die Trennung von Kirche und Staat, wie sie in der Weimarer Verfassung vollzogen wurde, war in den Kirchen für viele kein Grund zur Freude. Klarer und einleuchtender schien ein Staats­gebilde, in dem Kirche und Staat eng aneinander gebunden sind und so ein christliches Gesamt­gefüge gesichert war. Demokratie bedeutet ein freies Spiel der Meinungen. Niemand kann garantieren, dass „Christlichkeit“ gewahrt bleibt. Im Hintergrund stand natürlich eine Geschichte, in der sich das Christentum von einer bedrohten Minderheit im römischen Reich erst zu einer geduldeten Religion und dann zur Staatsreligion entwickelt hatte. Durch die Reformation sind unterschiedliche Konfessionen entstanden. Aber in den jeweiligen Territorien gab es dann doch eine weitgehende, an dem Bekenntnis der jeweiligen Obrigkeit orientierte konfessionelle Homogenität. Erst in den sich in der Neuzeit herausbildenden Staaten wurden dann mehr und mehr die religiöse Pluralität und Toleranz Themen.

Demokratie als Lerngeschichte

Das theologische Selbstverständnis der christlichen Kirchen hat staatliche Ordnung und Obrig­keit nie grundsätzlich in Frage gestellt. Mit dem Alten Testament war das Leitbild eines von Gott legitimierten Königs vor Augen, der sich am göttlichen Recht zu orientieren hatte. Kritik an der Obrigkeit war prophetische Kritik. Im Neuen Tes­ta­ment war das entscheidende Gegenüber das römische Imperium. Diesem hat Jesus keinen eigenen Machtanspruch gegenübergestellt. Eine eigene Staatstheorie gibt es in den neutestamentlichen Texten nicht. Staatliche Obrigkeit wird als gottgegebene Ordnung angesehen und der Für­bitte der Gemeinde empfohlen. Luther hat in seiner sogenannten Zwei-Reiche-Lehre festgehalten, dass weltliche Obrigkeit und Kirche zwei voneinander unterschiedene Aufgaben haben.
Die weltliche Obrigkeit hat dem weltlichen Regiment Gottes zu dienen und gegebenenfalls mit Gewalt dem Bösen zu wehren und den Frieden zu sichern. Die Kirche dient dem geistlichen Regi­ment Gottes, mit dem Gott Menschen zum Glau­ben führt und im Glauben bestärkt. Ver­bun­den sind beide in ihrer Verpflichtung Gott gegenüber, so dass es durchaus eine Aufgabe der Kirche ist, die weltlichen Fürsten an ihre Ver­pflich­tung Gott gegenüber nicht nur zur erinnern, sondern sie auch zu ermahnen. Auch die reformierte Tradition hat in diesen Bahnen gedacht, obgleich sich in ihrem Gemeinde- und Kirchenverständnis demokratische Entscheidungsstrukturen ent­wickelt haben.

Kirche und Demokratie

Heute ist es kaum zu glauben, dass es bis 1985 gedauert hat, ehe die Evangelische Kirche in Deutschland in der Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“ grundlegend zum demokratischen Rechtsstaat Stellung bezogen hat. In dieser Denkschrift wird die Demokratie bejaht und anderen Staatsformen vorgezogen, weil das, was in ihr gelebt wird, dem Evangelium am ehesten entspricht. Das heißt: Die Kirche kann – und das gilt besonders im Rahmen der deutschen Verfassung – in Freiheit den Glauben leben und sich nach Kräften in die Gestaltung der Gesellschaft einbringen. Sie kann und darf dabei keinen eigenen Machtanspruch erheben. In der pluralistischen Gesellschaft ist ihre Stimme eine unter vielen. Was sie zu sagen hat, kann und muss sie in den Prozess der demokratischen Entscheidungsfindung einbringen.
Alle Christinnen und Christen sind herausgefordert, als Bürge­rinnen und Bürger den Staat selbst mitzugestalten, indem sie wählen oder auch sich zur Wahl stellen. Die Kirche wird mit dem Staat zusammenarbeiten, solange der Staat seine Grenzen wahrt und nicht selbst religiöse Ansprüche entwickelt oder gegen die von ihm selbst gesetzten Werte verstößt.