Perspektiefe 44, Dezember 2017

Eine zukunftsfähige Soziale Markt­wirtschaft muss heute eine Ökosoziale Marktwirtschaft sein

STANDPUNKT: Der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands nach dem 2. Weltkrieg und die damit verbundenen Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs und der sozialen Teilhabe in der deutschen Gesellschaft sind in den Köpfen vieler Bürge­rinnen und Bürger untrennbar mit der Sozialen Markt­wirtschaft verknüpft. Doch in den letzten Jahren verblasst der einstige Glanz der Sozialen Marktwirtschaft.

von Dr. Brigitte Bertelmann und Dr. Julia Dinkel, ZGV
„Die Markt­wirtschaft der Zukunft muss hier stärker an dem Verur­sacherprinzip ansetzen, indem z. B. Emis­sio­nen sowie Energie- und Ressourcenverbrauch be­lastet, menschliche Arbeit steuerlich ent­lastet wird.“
Dr. Brigitte Bertelmann (o.)
Dr. Julia Dinkel (u.)
Die über die Regierungszeit von Ludwig Erhard hinaus erfolgreiche Kombination aus einem freien Markt und Elementen des sozialen Ausgleichs ist in eine Schieflage geraten. Die Freiheiten am Markt haben zugenommen, während gleichzeitig Maßnahmen zum sozialen Ausgleich zurückgefahren wurden. Die alten Ver­sprechen der Sozialen Marktwirtschaft wie „Wohl­stand für alle!“ oder „Wer sich anstrengt, wird belohnt“ gelten auch für viele Erwerbstätige nicht mehr. In der Fol­ge erscheinen der soziale Zusam­menhalt in unserer Gesellschaft und das Vertrauen in den Rechtsstaat gefährdet. Span­nungen in der Gesellschaft neh­men zu. Wie kann Politik, angesichts der anstehenden sozialen und technischen Ver­än­derungen und der Heraus­for­derungen, die sich durch die Digitali­sierung ebenso wie durch die Verletzung der planetari­schen Grenzen stellen, die Grundlagen für eine gerechte Gesellschaft erhalten bzw. neu gestalten?

Sozialer Aspekt

Sozialpolitisch muss der Fokus darauf liegen, die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Die wachsende Zahl unterbrochener Er­werbs­biografien, die durch Phasen einer zeitweisen Selbstständigkeit, Weiterbildung, längere Erzie­hungs- oder Pflegezeiten, aber auch durch Ar­beitslosigkeit entstehen können, sind als normale Lebensphasen der meisten Menschen einzubeziehen und nicht primär als anspruchsmindernde Fehlentwicklungen zu betrachten. Bisher bieten die sozialen Sicherungssysteme in Deutsch­land weder für Menschen mit Erziehungs- oder Pflege­ver­antwortung, insbesondere für Alleinerziehende, noch für solche, die aus unterschiedlichsten Grün­den (zeitweise) nicht der wirklichkeitsfremden An­nahme von ununterbrochener Vollerwerbs­tätigkeit über mindestens 45 Jahre entsprechen können, keine zeitgemäße Antwort. Selbstver­ständlich kos­ten mehr Transferzahlungen und staatliche Leis­tungen Geld. Aber Studien belegen, dass eine Mehrheit der Deutschen dafür ist, diese Leis­tun­gen ebenso wie Leistungen für Gesundheit und Pflege dennoch bedarfsgerecht zu gestalten.

Ökologischer Aspekt

Untrennbar von den klassischen Fragen sozialer Gerechtigkeit ist heute die Notwendigkeit, die sozialen Folgen ökologischer Veränderungen für die zukunftsfähige Gestaltung von der Gesell­schaft einzubeziehen.
Schon jetzt gehen Maß­nahmen zum Umwelt­schutz überproportional zu Lasten von einkommensschwachen Personen. So fallen höhere Energiekosten für den Verbrauch von Strom und Gas bei niedrigeren Einkommen stärker ins Ge­wicht als bei mittleren oder höheren Einkom­men. Die größten Ver­brau­cher von Energie und Verur­sa­cher von CO2 werden hingegen von höheren Abgaben und Steuern befreit. Die Markt­wirt­schaft der Zu­kunft muss hier stärker an dem Ver­ursa­cher­prin­zip ansetzen, in­dem z. B. Emis­­sio­nen sowie Energie- und Res­sour­cenver­brauch be­las­tet, menschliche Arbeit steuer­lich ent­lastet wird. Gleich­zeitig müssen öffentliche An­gebote für klimagerechte Mobilität, Kommu­ni­kation ent­wickelt werden. Mehr noch: Soziale Sicherungs­systeme und das gesellschaftliche Zusammen­leben müssen mittel- und längerfristig wachs­tumsunab­hän­gig gestaltet werden, wollen wir die ökologischen Herausforderungen ernst nehmen, die sich mit dem Klimawandel, dem Verlust und der weiteren Gefährdung von Biodiversität und anderer planetarischer Grenzen stellen.

Finanzierungsmöglichkeiten

Die Möglichkeit der öffentlichen Hand, öffentliche Leistungen für Bildung und Forschung, Gesund­heit, den Umwelt- und Klimaschutz, Sicherheit und Rechtswesen, Schutz von Gemeingütern, Kultur und nicht zuletzt eine funktionsfähige, bürgerorientierte öffentliche Verwaltung sowie öffentliche Güter wie Infrastruktureinrichtungen in ausreichender Menge und Qualität zu finanzieren, wird bestimmt durch die Höhe und Verlässlichkeit ihrer Einnahmen. Dass Steuerpflichtige dazu nach Maßgabe ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit beitragen sollen und damit eine gewisse Umverteilung verbunden und akzeptiert ist, gehört zu den Prinzipien einer Sozialen Marktwirtschaft. Zu den Steuer­prinzipien gehörte es auch, dass grundsätzlich alle Einkunftsarten gleichmäßig herangezogen werden sollten. Mit der Privilegierung insbesondere von höheren Einkünften aus Kapitalerträgen durch die Einführung der Abgeltungssteuer wurde von diesem Prinzip ebenso abgewichen wie durch die steuerliche Besserstellung von vererbtem Betriebsvermögen und den Kapitalerträgen ausländischer Anleger und Investoren. Da gerade Menschen mit niedrigen Einkom­men, die deshalb keine oder nur geringe Ein­kom­men­steuer zahlen, ihr Einkommen weitgehend für Gü­ter des täglichen Verbrauchs einsetzen müssen, würden sie überproportional von einer Sen­kung der Mehrwertsteuer profitieren. Ebenso würden kleine und mittlere Erwerbseinkommen weit­­aus stärker von der steuerlichen Anrechnung der Sozialversicherungsbeiträge entlastet als die von fast allen Parteien propagierte Abschaffung des Solidaritätszuschlags, die primär höheren Ein­kommen zugute käme. Sollten sich die Parteien auf die Abschaffung des Soli verständigen (zu Re­daktionsschluss war dazu noch keine Ent­schei­dung bekannt), muss diese so gestaltet werden, dass die Progressivität der Besteuerung für hohe Einkommen mindes­tens erhalten bleibt, eher aber verstärkt wird.
Obwohl eine verfassungskonforme Vermö­gens­steuer ein geeigneter Beitrag sein könnte, um einer weiteren Konzentration von Vermögen und damit weiterer Ungleichheit in der Vermögens­ver­teilung entgegenzuwirken, fehlt dazu bei fast allen Parteien der politische Wille, dies auch durch­zusetzen. Dies gilt ebenso für eine gerechtere Be­steuerung großer Erbschaften und die Ab­schaf­fung der steuerlichen Privilegierung bei der Ver­erbung von Betriebsvermögen, die nur unzureichend zwischen kleineren Betrieben und sehr großen Familienunternehmen unterscheidet. Um der Wettbewerbsverzerrung und steuerlichen Benachteiligung von kleinen und mittleren Unter­nehmen (KMU) gegenüber transnationalen Un­ternehmen entgegenzuwirken, ist vor allem die Einführung einer Gemeinsamen Konsolidierten Konzernsteuer (GKKS) zu nennen. Während diese eine internationale Abstimmung ebenso voraussetzt wie die Einführung eines öffentlichen Re­gisters der letztlich steuerlich Begünstigten und der schon lange geforderten Finanztransaktions­steuer, sind Regelungen, die zu einer steuerlichen Benachteiligung in Deutschland ansässiger Un­ternehmen gegenüber steuerlichen Ausländern führen, teilweise auch allein auf nationaler Ebene zu beseitigen. Insgesamt sind wir durch die tiefgreifenden technischen und ökologischen Veränderungen und deren soziale Folgen herausgefordert, über strukturelle, institutionelle und systemische Verän­derungen nachzudenken, die deutlich über die Veränderung von Beitragssätzen oder eher mäßige Veränderungen von Steuersätzen hinausgehen, wenn wir unsere Gesellschaft zukunftsfähig gestalten wollen.