Perspektiefe 45, März 2018

Lasst Jugendliche Jugendliche sein

INTERVIEW: Im letzten Jahr ist der 15. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung erschienen. Wiederholt wird darauf hingewiesen, dass Jugendliche mehr Freiraum brauchen. Dazu sprach „perspektiefe“ mit sieben Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Evangelischen Stadtjugendpfarramt Mainz.

Das Gespräch führten: Annika Gramoll und Margit Befurt, ZGV
„Manche von uns brauchen weniger Zeit zum Regenerieren. Wenn wir etwas gerne machen und glücklich dabei sind, kann unsere (Frei-)Zeit auch verplant sein.“ 

Was versteht ihr unter Freiraum?

Freiraum ist für uns Zeit, in der von Eltern und Schule nicht vorgeschrieben wird, was wir tun sollen. Es ist Zeit, in der wir zu 100 Pro­zent Dinge tun können, die uns Spaß machen, und keine großen Erklärungen dafür abgeben müssen. Freiraum ist auch Freiheit, die Freiheit, selbstbestimmt zu leben.  Dazu braucht man, wie das Wort schon sagt, auch einen Raum bzw. einen Ort, wo diese Frei­heit gelebt werden kann. Für uns ist dieser Ort bei­­spiels­weise hier beim Evangelischen Stadt­­­jugend­pfarr­amt. Wir erleben unser Engagement hier nicht als Stress. Vielmehr ist es so: Wenn wir hierherkom­men, bleibt alles, was uns sonst noch beschäf­tigt, draußen. Hier können wir entspannen, uns aus­leben, mitgestalten und unsere Mei­nung sagen. Im Gegensatz zu Freizeit, die bei uns häufig ver­plant ist, verstehen wir Freiraum auch als Zeit, einfach nur abzuhängen oder anders ausgedrückt als Zeit für sinnfreie Beschäftigung. Wenn der Kopf voll ist, kann sich dann vieles setzen und neuen Platz im Hirn schaffen, z.?B. für neue Ideen. Es ist wie „die Seele baumeln lassen“. Diese Zei­ten sind wichtig, um zu regenerieren.  Manche von uns brauchen weniger Zeit zum Regenerieren. Wenn wir etwas gerne machen und glücklich dabei sind, kann unsere (Frei-)Zeit auch verplant sein.

Einige von euch betreuen ehrenamtlich Kinder- und Jugendfreizeiten. Plant ihr in das Programm Freiräume ein?

Wir stellen fest, dass besonders Kinder im Alltag schon sehr verplant sind. Manchmal ergibt es sich, dass die Kinder beispielsweise in der Mit­tags­pause anfangen, ganz selbstständig zu spielen, und dann lassen wir sie auch, weil wir das Gefühl haben, dass die Kinder das gerade brauchen. Wir haben als Teamer die Freiheit, die Pro­gramm­planung umzuwerfen. Wir selbst haben während der Freizeiten wenige Möglichkeiten, für uns Freiräume zu schaffen. Denn als Teamer tragen wir die Verantwortung und müssen immer ansprechbar sein. Das heißt, wir stehen vom Anfang bis zum Ende unter Span­nung, haben aber viel Spaß daran.

Ist es für euch schwierig, Freiräume zu verteidigen?

Manchmal. Nach Kinder- und Jugendfreizeiten möchte man gerne mal nichts sehen oder hören. Dann wird aber vielleicht ein Kind nicht ab­geholt, die Abrechnung muss gemacht werden oder es gibt noch Nachbesprechungen. Das ist dann manch­mal zu viel, muss aber halt gemacht werden. Wahrscheinlich ist die Möglichkeit, Freiräume zu verteidigen, auch altersabhängig. Für 15- bis 16-Jährige, die noch zuhause leben, gibt es sicher auch noch Anforderungen von Eltern an Beteili­gung im Haushalt oder „Zimmer aufräumen“. Da ist es sicherlich schwieriger als für 18- bis 19-Jäh­rige. Man muss sein eigenes Leistungsvermögen erst selbst einschätzen lernen, um eine Grenze ziehen zu können. Viele Eltern haben aber auch Verständnis dafür, dass man sich beispielsweise nur am Wochenende mit Unterstützung im Haus­halt beschäftigt, da wir unter der Woche mit Schule komplett verplant sind.

 
Was haltet ihr von der Aussage „die jungen Leute hängen heute doch nur noch faul rum“?

Manchen Menschen fehlt einfach das Hinter­grund­wissen. Zu ihrer Zeit gab es die neue Tech­nik noch nicht (Internet) und sie haben ihre Zeit mehr im Freien verbracht. Manchmal haben sie auch vergessen, dass sie selbst mal jung und in der Pubertät waren und ihre Schlupflöcher gegen allzu große Anforderungen gesucht haben.  Ältere Menschen sehen häufig auch nicht, wie sich Schule verändert hat. Bei G8 (Abitur in der 12. Klasse) muss der Stoff von neun Jahren in acht Jahren durchgepaukt werden.  An manchen Schulen bekommen die Schüle­rinnen und Schüler auch schon Aufgaben für die Sommerferien.  Der Druck, gute Noten zu erzielen, steigt, da wir immer wieder gesagt bekommen, dass gute Noten die Voraussetzung für ein erfolgreiches Leben sind. Auch die Eltern spielen dabei eine große Rolle. Sie denken, dass ihre Kinder viel können müssen, damit sie für das Leben gerüstet sind. Das heißt: nicht nur für die Schule pauken, sondern auch Geige spielen lernen, Leistungs­sportler werden und was es sonst noch so alles gibt. Aus unserer Sicht sollten sich Schulen diesem Leistungsdruck und den steigenden Erwartungen entgegenstellen.

Spürt ihr bei den Kindern und Jugendlichen auf euren Freizeiten, dass sie unter Druck stehen?

Ja, das merkt man schon. Manche Jugendliche müssen während der Konfi­freizeiten lernen. An­dere dürfen erst gar nicht mitfahren, weil dann die Schule ausfällt. Ein sechsjähriger Junge erzählte uns auf einer Kinderfreizeit während der Sommerferien, dass er nicht nachhause möchte, weil er dann wieder jeden Tag etwas für die Schule machen müsse. Wir Teamer nehmen das Wort „Schule“ während der Freizeiten nicht in den Mund. Denn es geht um Freizeit und nicht um Schule.

Stellt euch vor, ihr könntet die Gesellschaft ein bisschen verändern. Was würdet ihr anpacken?

Zuerst sollte das Schulsystem reformiert werden. Wenn es nach uns ginge, würden wir G8 wieder abschaffen und für ein offeneres Schulsystem eintreten, das stärker auf die Stärken und Schwächen des Einzelnen eingeht. Was spricht dagegen, Grund- und Leistungskurse schon früher und nicht erst ab der Oberstufe einzuführen? Und lebens­praktische Aspekte sollten in den Lehrplan aufgenommen werden. Schließlich soll die Schule auf das Leben vorbereiten und nicht nur theoretisches Wissen vermitteln. Und sie müsste Schülerinnen und Schülern schon von der ersten Klasse an selbstbestimmtes Lernen beibringen. Bildungspolitik wird von Menschen gemacht, die schon lange aus der Schule raus sind. Sie soll­ten viel häufiger fragen, was die Kinder bewegt. Gleichzeitig wünschen wir uns in der Gesell­schaft mehr Toleranz und Respekt. Warum ver­urteilt man Menschen, die nicht das klassische Familienbild leben oder eine andere Hautfarbe haben? Menschen müssen mehr aufeinander zugehen und miteinander reden. Unser Appell an die Gesellschaft lautet:

Lasst Kinder Kinder sein. 

Lasst Jugendliche Jugendliche sein. 

Lasst Erwachsene Kinder sein.