29.01.2016
Erwerbslosigkeit

Arbeitslosigkeit ist kein Thema von gestern

Zur aktuellen Lage
Auch 10 Jahre nach Inkrafttreten von Hartz IV (Sozialgesetzbuch (SGB) Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitsuchende) ist Arbeitslosigkeit kein Problem von gestern. Insbesondere die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist trotz steigender Beschäftigung nach wie vor hoch.

In Deutschland waren 2014 im Jahresdurchschnitt 2,9 Millionen Menschen arbeitslos. Darunter 1,1 Millionen oder 37 Prozent Langzeitarbeitslose. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) stellt in seinem Kurzbericht 20/2015 fest: „Die Zahl der Langzeitarbeitslosen verharrt seit 2010 bei einer Million, etwa jeder dritte Arbeitslose ist schon mindestens ein Jahr arbeitslos. Unter den Langzeitarbeitslosen ist zwischen 2010 und 2014 der Anteil von Personen gestiegen, deren Chancen am Arbeitsmarkt eher ungünstig sind“

In Hessen sind im Oktober 2015 66.122 (38,7%) und in Rheinland-Pfalz 37.516 (35,6%) Langzeitarbeitslose erfasst. Doch die offizielle Statistik zeigt nicht das ganze Ausmaß des Problems. Denn Langzeitarbeitslose, die an einer arbeitsmarktpolitischen Maßnahme teilnehmen oder länger als sechs Wochen krankgeschrieben sind, werden danach wieder als kurzzeitig arbeitslos geführt. Und Arbeitslose über 58 Jahre, die seit mehr als einem Jahr kein Jobangebot mehr erhalten haben, werden in der Arbeitslosenstatistik gar nicht mehr mitgezählt.

Kirche tritt für Arbeitslose ein

Die Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit auf mehr als eine Million Menschen ist mitbedingt durch den massiven Rückgang von Fördermaßnahmen seit 2012. Diese Kürzungen wurden von der evangelischen Kirche und der Diakonie öffentlich kritisiert und ein Ausbau der öffentlich geförderten Beschäftigung gefordert. So zum Beispiel in der bundesweiten „Initiative Pro Arbeit“, an der sich die EKHN und Diakonie Hessen beteiligten.

Auch in der gemeinsamen Feststellung zur Ökumenischen Sozialinitiative des Vorsitzenden des Rates der EKD, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm und des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx vom 2. Oktober 2015 werden öffentlich geförderte Beschäftigungsangebote gefordert: „Die erste Orientierung ist ein Gerechtigkeitsverständnis, das sich an der Verbesserung der Situation der schwächsten Glieder einer Gesellschaft orientiert. Die durch gute Vernunftgründe gestützte biblische Option für die Armen ist Grundlage für ein Gemeinwesen, das allen dient. Wir sehen daher mit Sorge eine Entwicklung, nach der in unserem Land der Reichtum wächst, ohne dass die schwächsten Glieder unserer Gesellschaft davon profitieren. Diese Entwicklung widerspricht dem christlichen Gerechtigkeitsverständnis. Wir fordern daher wirksame Maßnahmen, die dieser Entwicklung entgegensteuern. Wir unterstützen alle politischen Ideen, die Armut in unserem Land und weltweit überwinden helfen. Wir befürworten Programme, die – auch durch öffentliche Unterstützung dauerhaft arbeitsloser Menschen – Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen“.

Die EKHN selbst fördert exemplarisch mehrere Beschäftigungs- und Qualifizierungseinrichtungen sowie Arbeitslosenprojekte, die besonders benachteiligten Menschen auf dem Arbeitsmarkt bei ihrer Integration in die Arbeitswelt unterstützen. Durch die Neueinrichtung einer Vergabekommission "Arbeit und Qualifizierung", die Anfang 2014 ihre Arbeit aufnahm und deren Geschäftsführung sowie Vorsitz im ZGV liegt, soll dieser Arbeitsbereich stabilisiert werden. Trotz dieser Bemühungen konnte jedoch nicht verhindert werden, dass zwei Projekte (Diakonie Werkstatt Rüsselsheim / Groß-Gerau e.V., Wurzelwerk gGmbH Groß-Umstadt) aufgrund der oben genannten staatlichen Kürzungen ihre Arbeit einstellen mussten.

Dies ist bitter. Denn nach wie vor sind Angebote für benachteiligte Gruppen am Arbeitsmarkt notwendig. Laut FR-Arbeitsmarktindex vom Oktober 2015 ist die Wahrscheinlichkeit, dass Langzeiterwerbslose oder Ältere in Arbeit kommen, im Vergleich zu anderen weiterhin geringer als noch 2007 (Frankfurter Rundschau, 26.10.2015). Im Alter von 51 bis 64 Jahren verringert sich die Wahrscheinlichkeit, aus der Arbeitslosigkeit heraus in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung (mit einem Gehalt von mehr als 400 Euro) zu gelangen, um 10,1 Prozent, bei einem längerem Leistungsbezug um 9,2 Prozent und bei Alleinerziehenden mit einem Kind unter 3 Jahren um 14,7 Prozent (IAB Stellungnahme 4/2015, Sozialer Arbeitsmarkt, S.8)

Kein Anlass zur Beruhigung: Angebote für Erwerbslose auch zukünftig unverzichtbar
Eine Entspannung dieser Situation ist vor dem Hintergrund der Flüchtlingssituation nicht zu erwarten. Das IAB rechnet in seinem Zuwanderungsmonitor vom Oktober 2015 für die Jahre 2016 und 2017 mit einer deutlichen Ausweitung des Arbeitskräfteangebots durch die Flüchtlingsmigration und geht davon aus, dass die Zahl der arbeitslosen Flüchtlinge 2016 um 70.000 bis 210.000 Personen steigen wird. Viele dieser Flüchtlinge werden auf Unterstützung bei ihrer Integration in Arbeit angewiesen sein.
Im Gegensatz zur herrschenden Förderlogik benötigen die „arbeitsmarktfernen“ Arbeitslosen mit mehreren sogenannten Vermittlungshemmnissen (Alter, Gesundheit, Qualifikation, Mobilität, Langzeitarbeitslosigkeit, mangelnde Sprachkenntnisse, mangelnde Lese-, Schreib- und Ausdruckfähigkeit) keine kurzfristige Maßnahmen, sondern individuelle Förderung, die über einen längeren Zeitraum, angepasst auf den Einzelfall und seine Besonderheiten, zu einer dauerhaften Stabilisierung führen können. (vgl. Prof. Sell, IST-Studie „Endstation Arbeitsgelegenheit!?, April 2013) Kirchliche Beratungs- und Beschäftigungsgesellschaften versuchen, Angebote aufrecht zu erhalten
Genau diese individuelle Förderung und Begleitung leisten kirchliche Beratungs-, Beschäftigungs- und Qualifizierungseinrichtungen. Unterstützt durch kirchliche Mittel und Spendenaktionen versuchen sie, trotz des ständigen Auf und Ab der staatlichen Förderpolitik, ihre Angebote aufrecht zu erhalten. Ein Beispiel ist das Modell für Ausbildungspatenschaften der Jugendwerkstatt Gießen e.V., das vor allem Jugendlichen zu Gute kommt, die durch das Raster der Förderprogramme fallen. So werden z.B. junge Flüchtlinge in der ersten Zeit ihres Aufenthalts von Maßnahmen der beruflichen Bildung ausgeschlossen.
Durch Ausbildung und Qualifizierung Langzeitarbeitslosigkeit zu verhindern oder zu beenden ist eine der nachhaltigsten Strategien zur Armutsbekämpfung. Die Selbstverpflichtung gegen Armut und Ausgrenzung, die die Synode der EKHN in ihrer Frühjahrstagung 2014 beschlossen hat, ist ganz in diesem Sinn.


Marion Schick, Referat Arbeit & Soziales