07.04.2020
Arbeit & Soziales

Corona-Krise in der EU

Hier können Sie die Beobachtungen und Gedanken der Referentinnen und Referenten des ZGV zur Coronakrise lesen. Heute: Gisela Zwigart-Hayer, Referat Arbeit und Soziales, zum Thema Europa

Die Corona-Krise in der EU

Vereinzelt uns das Virus oder vereint es?

von: Gisela Zwigart-Hayer, Referat Arbeit und Soziales
Die schnell ansteigenden Fallzahlen der Corona-Pandemie zwingen zu unmittelbaren und einschneidenden Maßnahmen. Wie handlungsfähig zeigt sich die EU in der Krise, wo wir schon innerhalb Deutschlands nur mit Mühe zu bundeseinheitlichen Regelungen kommen?

Einigkeit und Solidarität der Mitgliedsstaaten untereinander gestalten sich ohnehin häufig schwierig. Mit dem Ausbruch der Corona-Krise mussten wir viele Reaktionen erleben, die nicht von einem gemeinsamen europäischen Geist zeugen. Um seine Bürger auf die Ernsthaftigkeit der Krise einzuschwören, scheut beispielsweise Frankreichs Präsident Macron auch martialische Vergleiche nicht und spricht - ausgerechnet im grenznahen Elsass - vom "Krieg" gegen das Coronavirus  und der  "Operation Widerstandskraft". Viktor Orban reagiert mit einem unbefristeten Notstandsgesetz und hebelt damit demokratische Grundrechte in Ungarn aus.

Schengenraum existiert nicht mehr

Die Grenzen in Europa sind geschlossen, der Schengenraum, wo Grenzkontrollen zwischen den Staaten eigentlich abgeschafft sind, existiert de facto nicht mehr. Mittlerweile haben mehr als die Hälfte der 26 Schengenstaaten scharfe Grenzkontrollen eingeführt, auch Deutschland.
Die Folge waren Megastaus, vor allem an den deutsch-polnischen und den österreichisch-ungarischen Übergängen. Die Bemühungen der EU-Kommission um einen möglichst reibungsarmen Binnenmarkt in dieser Krisenzeit haben zwar zu einer Reduzierung von Staus an den Grenzübergängen geführt, nach wie vor gibt es jedoch erhebliche negative Auswirkungen auf Berufspendler und Saisonarbeitskräfte. Für Berufspendler gelten verschärfte Grenzübertrittsregeln; Sonderkontrollen führen zu langen Wartezeiten. Ein Beispiel: von Rheinland-Pfalz nach Frankreich oder umgekehrt zu gelangen, ist derzeit nur noch über drei Grenzübergänge möglich.
Das Einreiseverbot für Saisonarbeitskräfte aus Bulgarien und Rumänien führt beispielsweise dazu, dass die deutschen Landwirte händeringend nach Arbeitskräften für Ernte und Aussaat suchen.

Fragwürdige Einigkeit beim Schutz der europäischen Außengrenzen

Lediglich bei der Frage der Abschottung der Außengrenzen, insbesondere  der griechischen zur Türkei, wurde die Einigkeit im Handeln nicht in Frage gestellt.
Als positives Beispiel für die Handlungsfähigkeit der EU eignet sich diese Vorgehensweise dennoch nicht: hier wurde die europäische Idee von Menschenwürde und Menschenrechten schon vor Beginn der Corona-Pandemie mit Füßen getreten; die zaghaften Versuche einiger Länder, darunter Deutschland, wenigstens unbegleitete Kinder aus den menschenunwürdigen Zuständen in den Lagern herauszuholen, sollten aufgrund der Pandemiegefahren in großen Flüchtlingslagern schnellstmöglich umgesetzt werden.

EU-Gremien wollen Handlungsfähigkeit zeigen

Angepasst an die Erfordernisse der Pandemie arbeiten auch die EU-Institutionen im Notmodus:
Das EU-Parlament wird technisch unterstützt zur „Fernteilnahme“ an Sitzungen. Über „Fernabstimmungen“ sollen Parlamentsentscheidungen zeitnah ermöglicht werden. Trotz Warnungen aus Fachkreisen in Bezug auf die Datensicherheit und Manipulierbarkeit bei den gewählten Verfahren ist es den Parlamentarier*innen wichtig, handlungsfähig zu bleiben und für die Bevölkerung in der derzeitigen Krise besser wahrnehmbar zu sein.

Der Rat, also die Staats- und Regierungschefs, agieren zwar  mit dem Ziel, an einem Strang zu ziehen. Die Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, hat mit deutlichen Worten einen solidarischen und einheitlichen Umgang der EU-Mitgliedsstaaten angemahnt, aber auf dem jüngsten  Video-Gipfel  des EU-Rates zeigte sich erneut, dass Einigkeit bei der Bewältigung der finanziellen Folgen der Corona-Krise derzeit nicht in Sicht ist. Während vor allem die schon vor der Krise wirtschaftsschwächeren südlichen Länder der EU kraftvolle Maßnahmen zum gemeinsamen Tragen der Schuldenlasten (sog. „Corona-Bonds“) und zur Stärkung der Finanzkraft (z. B. das Anzapfen des Euro-Rettungsfonds) fordern, lehnen  die wirtschaftsstarken  nördlichen Mitgliedsstaaten - so auch Deutschland - entsprechende  Vorschläge nach wie vor strikt ab. So ist derzeit zu befürchten, dass sich das wirtschaftliche und soziale Auseinanderdriften der Mitgliedsländer weiter verstärkt.

Es gibt auch Gelingendes

Bedenkt man das übliche Procedere bis zum Zustandekommen eines EU-Gesetzes, haben sich EU-Rat, -Kommission und -Parlament in kürzester Zeit auf tiefgreifende Entscheidungen geeinigt und einen Maßnahmenkatalog erstellt.
Um unsolidarischen Auswüchsen entgegenzuwirken - als Beispiel sei die Entscheidung Deutschlands und Frankreichs zur Kappung der Ausfuhr knapper medizinischer Schutzkleidung an EU-Partner genannt,  oder die Beschlagnahmung von Schutzmasken aus Transitlieferungen durch die tschechische Regierung - wird in den EU-Leitlinien betont,  dass der freie Warenverkehr -  vor allem mit Blick auf Medizin und andere wichtige Güter - möglichst wenig gestört werden solle. Es wurde eine verstärkte Zusammenarbeit zur  Versorgung  mit medizinischer Schutzausrüstung und zur gemeinsamen medizinischen Forschungsarbeit beschlossen.
Es  dürften eigene Staatsbürger, in dem Land ansässige EU-Bürger und sonstige Ansässige an den Binnengrenzen nicht ausgesperrt werden. Grenzgängern, die im Gesundheits- oder Pflegebereich arbeiten, soll das Überqueren von Binnengrenzen erleichtert werden.

Eine positive Wirkung könnte man darin erkennen, dass angesichts des Mangels, der offenbar wird, Dienstleistungen und Güter eine neue Wertigkeit erfahren; beispielsweise bekommt die Leistung der Saisonarbeitskräfte aus den Oststaaten derzeit öffentliche Wahrnehmung. Es wird sich zeigen, ob damit verbunden auch eine höhere Wertschätzung nachhaltig wirksam werden wird.

Vor allem gibt es Beispiele gelebten Europas, die von der Überwindung  nationaler Egoismen zeugen. So nehmen Krankenhäuser auch aus der rheinland-pfälzischen Grenzregion Corona-Patienten aus Frankreich auf. Es sind zahlreiche Solidaritäts- und Hilfsaktionen für Partnerstädte entstanden. Die Idee aus Italien, mit gemeinsamem Balkongesang gegen die Isolation und die Ängste, die mit den Ausgangsbeschränkungen während der Pandemie einhergehen, anzusingen, wird auch in unseren Städten aufgenommen.

Was treibt mich um, wenn ich an die EU denke?

Das Virus hat sich, von Grenzschließungen und Machtdemonstrationen nationaler Staatenlenker unbeeindruckt, weiter verbreitet - das zeigt im Grunde einmal mehr, dass Abschottung und Säbelrasseln keine Probleme lösen. In der Krise zeigen grenzüberschreitende solidarische Aktionen aber auch, dass der europäische Gedanke von Solidarität und Menschenwürde  eine starke positive Wirksamkeit entfalten kann.
Die EU-Staaten haben jetzt die Pflicht und die Chance zu verstärktem solidarischem Handeln - damit die in der EU lebenden Menschen erfahren, dass sie sich unter einem großen gemeinsamen Sicherheitsdach befinden, dass soziale und wirtschaftliche Probleme gemeinsam besser durchgestanden und bewältigt werden können, dass die EU auch in schweren Zeiten hilfreich ist. Noch sind die Belege dafür eher dünn.