23.01.2024
Landwirtschaft

Bauernproteste Januar 2024

Für eine faire Streitkultur!
Ein Kommentar von Dr. Maren Heincke, ZGV der EKHN

Traktor-Korsos prägten in vielen Städten Deutschlands die zweite Januarwoche 2024. Ende Januar könnten die Demonstrationen der Landwirte weitergehen, wird nicht noch eine für alle Seiten gesichtswahrende Ausstiegslösung gefunden.

Hohe Sympathien in der Bevölkerung für die Landwirtschaft
Angemeldete gewaltfreie Demonstrationen durchzuführen, gehören zu den demokratischen Rechten aller Bürger. Die bisherigen Bauernproteste waren ganz überwiegend friedlich und sehr diszipliniert. Das erzeugte in der breiten Bevölkerung hohe Sympathien für die Anliegen der Landwirtschaft, trotz starker Verkehrsbeeinträchtigungen oder Lärmbelästigungen.
Das hohe Verständnis für Proteste der Landwirte hat viel mit der gesamtpolitischen Situation zu tun. Weniger mit den Details rund um die Agrardieseldebatte.

Hohe Unzufriedenheit mit gesamtgesellschaftlicher Situation
Viele Bürger sind mit der Politik der Bundesregierung stark unzufrieden und verunsichert. Es entstehen tiefgreifende Zukunftsängste weil die globalen, europäischen und nationalen Polykrisen ganz real und für viele in ihrem Alltag deutlich spürbar sind.
Die Bundesregierung steht vor einem immensen Handlungsdruck aufgrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, Krise der Energieversorgung, Wetterextreme, Migration, Bildungsmisere, Infrastrukturverfall, Defizite in der medizinischen Versorgung, negative gesellschaftspolitischen Folgen der Covid-Pandemie.
Ein Teil der derzeitigen Problemlagen ist systemischer Art und hat sich über Jahrzehnte hinweg in Deutschland aufgebaut. Durch Nichthandeln, Nicht-Diskutieren und Verdrängung unpopulärer politischer Entscheidungsnotwendigkeiten in die Zukunft, wuchsen die Problemberge extrem an und wurden immer komplexer.
Mögliche Lösungsansätze sind deshalb oft ebenfalls hochkomplex und benötigen eine gute interdisziplinäre Planung, ausreichend lange Umsetzungszeiträume und die frühzeitige Einbeziehung der Betroffenen.
Anscheinend billige Schnellantworten und einfache schwarz-weiß Patentlösungen verschiedenster Lobbyistengruppen tragen nicht in eine bessere Zukunft.  
Hinzu kommen wichtige politische Handlungsnotwendigkeiten unter extremen Zeitdruck. Der Ukraine-Krieg mitten in Europa erzwang einen Paradigmenwechsel der vormaligen jahrzehntelangen Außen- und Sicherheitspolitik.
Echte Friedenshoffnungen, selbstbetrügerische Lebenslügen, der verständliche Wunsch, verschont und geschützt zu bleiben in einer wieder von Kriegen geprägten Welt – all das stand plötzlich auf dem Prüfstand. Eine enorme politische Herausforderung und menschliche Bürde bei schwierigsten Fragen um Leben und Tod.
In der breiten Bevölkerung besteht deshalb ein hohes Verständnis dafür, dass die gegenwärtige politische und ökonomische Situation von gewaltigen Krisen und Unsicherheiten geprägt ist.
Trotzdem gibt es den berechtigten Anspruch, dass wichtige politische Entscheidungen gut durchdacht und vorab einer gründlichen, komplexen Politikfolgenabschätzung unterzogen werden.
Das Experimentieren mit dem Bundeshaushalt durch milliardenschwere Umschichtungen zweckgebundener Mittel trotz ganz eindeutiger Vorab-Warnungen von Juristen, Politikwissenschaftlern und Ökonomen hat das Bundesverfassungsgericht gestoppt. Entsprechende Einsparnotwendigkeiten bestehen jetzt.
Einsparmaßnahmen führen naturgemäß zu sozioökonomischen Konflikten zwischen den verschiedenen Betroffenengruppen.
Insbesondere Leistungsträger aller Art, Menschen, die täglich arbeiten gehen, Kinder erziehen, Kranke pflegen haben zunehmend den Eindruck, dass ihre Leistungen nicht ausreichend gewürdigt würden, sondern ihnen immer höhere ökonomische und soziale Lasten aufgebürdet werden sollen.

Vertrauensverlust in politisch Verantwortliche
Das eigentliche Problem ist jedoch nicht die notwendige Haushaltskonsolidierung, sondern der schrittweise Verlust des Vertrauens in staatliche Institutionen vieler Bürger. Über Jahre hinweg verlorenes Vertrauen lässt sich nur sehr schwer wieder zurückgewinnen.  
Viele Bürger bekommen Zukunftsängste bei einer Hü-Hott-Politik, einem geradezu spielerisch anmutenden Ausprobieren politischer Maßnahmen auf Kosten des ökonomischen und sozialen Sicherheitsgefühls und handwerklich schlecht gemachter Gesetze
Dabei geht es ausdrücklich nicht darum, eingesehene Fehlentscheidungen selbstbewusst zu korrigieren. Ganz im Gegenteil - das Eingeständnis von gemachten Fehlern steht positiv für eine selbstkritische politische Kultur.

Rückkehr zu einer konstruktiven Auseinandersetzungskultur
Respekt vor unterschiedlichen politischen Positionen, ein gemäßigter höflicher Umgangston, striktes Ausklammern der Privatsphäre von Politikern aller Couleur, Verzicht auf auch bloß unterschwelligen Gewaltandrohungen – das sind gute bundesrepublikanische Tugenden, auf die wir uns alle zurückbesinnen sollten.
Es geht um produktive, nachhaltige politische Lösungen – nicht um politische Feindschaften. Gute Demokraten können problemlos politische Gegner und Konkurrenten sein – sie treten jedoch gemeinsam für eine faire, verfassungskonforme Streitkultur ein.

Bauernproteste – der berühmte Tropfen zu viel
Viele der demonstrierenden Landwirte formulieren es selber so: die Agrardieseldebatte ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das Fass war jedoch bereits lange vorher voll. Jetzt sucht sich aufgestaute Wut, Frustration und permanente Überarbeitung auf den Betrieben ein Ventil.
Die derzeitigen Bauernproteste haben ihre Ursachen neben der gesamtgesellschaftlichen Situation auch in der Agrarpolitik der vergangenen Jahrzehnte.
Die Gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union (GAP) hat in den ersten Jahrzehnten viel Gutes bewirkt. Lebensmittel sind sicher, gut erschwinglich, Agrarumweltmaßnahmen reduzierten negative Umweltwirkungen, das Tierwohl stieg in einigen Bereichen.
Während der letzten GAP-Reformen wurden jedoch die dringend notwendigen Veränderungsschritte nicht durchgesetzt. Die GAP wird von den EU-Mitgliedsstaaten, der EU-Kommission sowie dem EU-Parlament bestimmt. Eine Kakophonie an unterschiedlichsten Interessenslagen. Oft kamen bloß noch sehr schwache Kompromisse als neue GAP heraus. Viele langjährig Engagierte sind frustriert, die agrarpolitischen Diskussionen für die GAP nach 2027 laufen jetzt schon intensiv.
Vor allem stöhnen die aktiven Landwirte nicht ohne Grund über die wachsenden Bürokratieanforderungen. Vor jeder GAP-Reform wird politisch ein Bürokratieabbau gefordert – aber als Ergebnis steigt die bürokratische Komplexität und Rechtsunsicherheit weiter an. Die neue GAP-Periode seit Januar 2023 ist ein weiterer Bürokratiehöhepunkt, den selbst ausgewiesene Profis der Agrarverwaltungen kaum noch bewältigen können.
Ganz klar getrennt werden sollten in den Debatten völlig unnötige, rein bürokratische Erfordernisse von den tatsächlich notwendigen Auflagen bezüglich Arbeits-, Tier- und Umweltschutz.
Hinzu kommt, dass der jahrzehntelange „normale“ Strukturwandel sich teilweise zu einem Strukturbruch in der Landwirtschaft ausgewachsen hat. Für viele Landwirte erscheint es als persönliches Versagen, einen über Generationen hinweg aufrecht erhaltenen Betrieb aufgeben zu müssen. Es sind jedoch oft Strukturprobleme die Ursache – nicht die individuellen unternehmerischen Fehler der Betriebsleiter.
Eine tiefe Lebensenttäuschung kann auch entstehen, wenn weder Sohn noch Tochter als zukünftige Betriebsleiter bereitstehen. Zwar wird dem Nachwuchs heute ganz bewusst viel mehr Freiheit bei der Berufswahl gelassen als früher – im Hinterkopf schlummert aber doch der Wunsch nach Aufrechterhaltung der Familientraditionen. Es geht dabei auch um die eigene Lebensbilanz, die Frage, ob sich die viele schwere Arbeit und der hohe Zeiteinsatz überhaupt gelohnt haben.
Deshalb auch immer wieder die Forderung des Berufsstands, nach mehr gesellschaftlicher Wertschätzung für ihre Arbeitsleistungen.
Hinter den scheinbar geschlossenen Protesten der Landwirte steht zudem eine extrem hohe Heterogenität der landwirtschaftlichen Betriebsstrukturen in Deutschland.
Kleine Familienbetriebe mit Milchviehhaltung in Süddeutschland haben völlig andere Bedarfe als sehr große Ackerbaubetriebe in Ostdeutschland. Für alle Betriebsformen passende agrarpolitische Lösungen zu entwickeln, ist deshalb wirklich nicht einfach.
Ein längerfristiges Ziel ist es, die öffentlichen Agrarförderungen sehr viel stärker als bisher an den öffentlichen Leistungen der Landwirtschaft auszurichten. Das ist jedoch Zukunftsmusik.

Was können wir jetzt tun?
In der gegenwärtigen Situation ist es sehr wichtig, dass die Bauernproteste weiterhin friedlich bleiben.
Es sollte zudem mitbedacht werden, dass eine längere Blockierung von unbeteiligten Dritten Sympathien in der Bevölkerung kosten würden. Das allgemeine Stresslevel ist bereits sehr hoch – die vorhandene Geduld sollte nicht überstrapaziert werden.
Eine ganz klare Abgrenzung zu Rechtsextremen, die die Demonstrationen gerne für ihre eigenen demokratiefeindlichen Zwecke kapern wollen, ist erfolgt. „Landwirtschaft ist bunt -  nicht braun“ heißt die richtige Parole.
Um die Friedlichkeit der Bauernproteste zu unterstreichen, sollte auf Gewaltsymbole wie Galgen strikt verzichtet werden. Was aus Sicht einiger Landwirte vielleicht bloß eine drastische Geste darstellt, weckt bei anderen Menschen richtiggehend Angst.
Galgen stehen in Deutschland zuletzt für die Zeit des Nationalsozialismus, in der jenseits jeder Rechtsstaatlichkeit und vollkommen willkürlich Menschen am Galgen endeten. Die Todesstrafe ist in Deutschland Gott sei Dank völlig abgeschafft. In vielen Diktaturen dieser Welt gehören öffentliche Hinrichtungen am Galgen jedoch nach wie vor zur Einschüchterungsstrategie gegenüber der Bevölkerung. Auch baumelnde Gummistiefel an Ortsschildern „spielen“ mit der Symbolik Gehenkter.
Neben den Protesten sollte die Gelegenheit genutzt werden, mit Politikern und unterschiedlichsten anderen gesellschaftspolitischen Akteuren, der Wirtschaft in einen ernsthaften Dialog über die Zukunft der Landwirtschaft zu treten. Die Zukunftskommission Landwirtschaft hat bereits viele konstruktive Impulse gesetzt. Die aktuelle Aufmerksamkeit kann ein Zeitfenster dafür eröffnen. Einige Vertreter der evangelischen Kirche sind in den agrarischen Themenkomplexen involviert und bringen Moderations- und Mediationswissen mit. Sie sind für die Unterstützung fairer Dialoge deshalb gerne ansprechbar.
Auf der individuellen Ebene sind im Agrarsektor überproportional viele Menschen von Burning-Out und Depressionen betroffen. Das sollte von den Betroffenen und ihrem Umfeld als schwere Erkrankungen sehr ernst genommen werden. Es gibt inzwischen zahlreiche spezialisierte Hilfs- und Beratungsangebote für Landwirtschafsfamilien. Es ist ein Zeichen von Stärke und Verantwortungswillen, externe Hilfen frühzeitig anzunehmen.
Krisen können gelöst und Alternativen erarbeitet werden. Die Menschen in der Landwirtschaft bringen dafür bereits sehr viele Ressourcen mit: einen konstruktiven Willen, Tatendrang, Lernbereitschaft, ein soziales Gewissen, Zuverlässigkeit.
Und neben all dem Krisengeschehen ist es sehr wichtig, das Freudige im Leben zu stärken. Sozialer Austausch, Sport, Chor, Haustiere, Spiritualität ,all das, was Kraft und Hoffnung geben kann.  

Hilfsangebote für Familien in Landwirtschaft und Weinbau