15.04.2016
Ländliche Entwicklung

Dorfgemeinschaften stärken durch Qualifizierungsmaßnahmen für das Ehrenamt

Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) engagiert sich in verschiedenen Projekten für Dorfentwicklungsprozesse. Die Projekte sind sehr unterschiedlich konzipiert. Verschiedene Beispiele werden im Folgenden vorgestellt.

Qualifizierungskurs zum Dorfprojektentwickler im Ehrenamt: BiBER im Vogelsbergkreis
In Kooperation zwischen dem Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung (Diplom-Agraringenieurin Dr. Maren Heincke, Referentin für den Ländlichen Raum) und dem Evangelischen Dekanat Alsfeld (Diplom-Pädagoge Ralf Müller, Erwachsenenbildung) wurde eine Langzeitfortbildung konzipiert und gemeinsam im Vogelsbergkreis durchgeführt. Das Angebot richtete sich an Freiwillige.

BiBER (Bildung Bürgerschaftlichen Engagements Regional) umfasste sieben Studientage, drei Exkursionstage sowie Eigenarbeit (Gesamtumfang: 90 Stunden). BiBER setzte sich aus verschiedenen Bausteinen zusammen. Baustein A vermittelte vor allem Inhalte bezüglich Demografischen Wandel, Dorfsoziologie, staatliche Dorfentwicklungsprozesse sowie eine Reflexion der eigenen Dorfprojektentwickler-Rolle. Im Baustein B wurden Projektmanagementmethoden (Mindmapping, Ablaufpläne, Öffentlichkeitsarbeit, Finanzen etc.) vorgestellt und anhand der Projekte der Teilnehmer erprobt.

Baustein C bestand aus Exkursionen in die Verbandsgemeinde Daun in der Eifel sowie nach Nordhessen (Oberellenbach, Wanfried). Die BiBER-Teilnehmer lernten so einen Dorfladen, einen therapeutisch arbeitenden Biobetrieb, Vermarktung von Fachwerkgebäuden, neue Formen des bürgerschaftlichen Engagements, Wohnprojekte für ältere Menschen etc. kennen. In Daun wird das bundesweit beachtete Projekt „WEGE – Wandel erfolgreich gestalten“ durchgeführt. Die Exkursionen waren mit starken Lernerfolgen verbunden. Die BiBER-Teilnehmer wurden ermutigt, nach eigenen Lösungsansätzen zu suchen.

Die BiBER-Teilnehmer waren eine geschlossenen Kursgruppe aus 18 Freiwilligen. Jeweils ein Drittel stammte aus den Bereichen Kommunalpolitik, Vereine bzw. Kirche. Die jüngsten Kursteilnehmer waren unter 30, die Ältesten über 70 Jahre alt. Frauen und Männer hielten sich die Waage. Neben vielen Akademikern (Ärztin, Jurist, Architektin, etc.) waren auch andere Berufsqualifikationen z. B. aus dem Handwerk vertreten (Friseurmeisterin, etc.). Gerade diese bunte Mischung der Gruppe und die Vernetzung unterschiedlicher Akteure war ein wesentlicher Erfolgsfaktor und ermöglichte wertvolle Horizonterweiterungen.

Neben den Fachinhalten erwies sich vor allem die Gruppenarbeit als sehr produktiv und Motivation steigernd. Außerdem kamen die Teilnehmer mit Entscheidungsträgern der Regionalentwicklung (LEADER-Manager, Abteilung ländlicher Raum des Vogelsbergkreises, Bürgermeister) zum Fachaustausch zusammen. Durch das persönliche Kennenlernen sollten bei den Ehrenamtlichen die Hemmschwellen sinken, in Zukunft die professionellen Akteure zu kontaktieren.

Die BiBER-Teilnehmer entwickelten sehr unterschiedliche Dorfprojekt-Ideen bis hin zur Umsetzungsreife. Das Themenspektrum umfasste Kulturvereine, neue Begräbnisformen, Nachbarschaftshilfe, Bündelung von Dorfveranstaltungen, Nutzungskonzepte für das Dorfgemeinschaftshaus,  Katzenschutz etc.. Nach dem Abschluss erhielten die Seminarteilnehmer zwecks Verstetigung weitere Fortbildungsmöglichkeiten.  

Stark finanziell bezuschusst wurde die Durchführung von BiBER durch das Land Hessen im Rahmen der Erwachsenenbildung. „BiBER“ erhielt außerdem den zweiten Platz beim „Demografiepreis Hessen 2013“ sowie einen der Deutschen Bürgerpreise der Landkreise Vogelsberg und Wetterau.

Der Focus von BiBER lag auf dem Sozialen Miteinander sowie die Veränderungsdynamiken aufgrund des demografischen Wandels. BiBER ist als Ergänzung zu bestehenden Prozessen und Instrumenten der Dorf- und Regionalentwicklung gedacht. Freiwilligenmanagement basiert auf den eigenen Wünschen und Kompetenzen der Freiwilligen und stärkt ihre Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit. BiBER setzte konsequent am Bottom-up Ansatz an: Dorfbewohner sind die besten Experten ihres jeweiligen Dorfes, benötigen jedoch oft fachliche Impulse zur „Hilfe zur Selbsthilfe“.

Begleitet wurde BiBER durch öffentliche Veranstaltungen zur Zukunft der ländlichen Räume, die sehr gut besucht wurden. Themen dabei waren u.a. Perspektiven der kirchlich-bürgerschaftlich-kommunale Vernetzung bei Fragen der Regionalentwicklung sowie Armut auf dem Land.  

Verbindung von Dorfentwicklung und Kirchengemeindeaufbau in Hamm am Rhein
Hamm am Rhein ist ein ehemaliges Fischerdorf in Rheinhessen (Rheinland-Pfalz). Als ein „Leuchtturmprojekt“ der EKHN wurde dort zusätzlich für 3 Jahre eine halbe Pfarrerinnenstelle bereitgestellt (Pfarrerin Dr. Erika Mohri). Ziel der Hammer evangelischen Kirchengemeinde (Pfarrer Thomas Höppner-Kopf) war es, parallel neue Impulse für den Kirchengemeindeaufbau sowie für die Dorfentwicklung zu geben. Unter anderem fand eine fachliche Unterstützung durch das Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN (Dr. Maren Heincke) statt. Die zusätzliche personelle Förderung lief von 2009 bis 2012. Heute trägt sich der Prozess in Hamm am Rhein vollständig selber. Der Erfolg von kleineren bürgerschaftlichen Projekten beflügelte dazu, nach und nach größere Projekte anzugehen.  

Von Projektbeginn an wurde in Hamm auf die gezielte Kooperation der Evangelischen Kirchengemeinde mit der Kommune, den Vereinen (BUND, Landfrauen etc.) sowie der Katholischen Kirchengemeinde gesetzt. Diese Vernetzung erwies sich als einer der Schlüsselfaktoren des Langzeitprojektes. Leifragen des Projektes waren „Wo kommen wir her? Was ist uns als Gemeinschaft wichtig? Wo wollen wir hin?“. Die Prioritätensetzungen erfolgten durch die Dorfbewohner selber. Zu Beginn fanden Ortsrundgänge mit Stationen zum Geschichtenerzählen statt sowie Einführungen in die Geologie und Geschichte des Ortes etc..

Im Laufe der Zeit entwickelten sich in der bereits davor sehr lebendigen evangelischen Kirchengemeinde in Hamm zusätzliche neue Angebote heraus. Im Rahmen des Gemeindeaufbaus erwiesen sich ergänzende spirituelle Frömmigkeitsformen als sehr erfolgreich (Meditation, Schweige-Exerzitien, Pilgern). Das Projekt „Offene Kirche“ führte dazu, dass das Kirchengebäude jetzt auch unter der Woche von morgens bis abends geöffnet ist. In Zusammenarbeit mit den Landfrauen entstand ein neuer Erntedankmarkt.

Das Dorf Hamm liegt direkt am Rhein und weist ökologisch sehr hochwertige Flächen in der Gemarkung auf. Dazu zählen auch Streuobstbestände mit über 100 verschiedenen Obstsorten. Im Jahr 2009 gründete sich u. a. eine Streuobstinitiative, die sich für den Erhalt, Schnitt sowie Neuanpflanzung alter Obstbäume und die Vermarktung des Obstes am „Hammer Apfeltag“ einsetzt. Weitere ökologische Projekte sind z. B. die Einrichtung eines Schulgartens, der auch von anderen Kinder- und Jugendgruppen genutzt wird. Früher gab es in Hamm am Rhein viele Korbflechter. Das Dorf pflanzte im Rahmen der Dorfentwicklung 5.000 junge Weiden und führte mit dem letzten Korbmacher von Hamm Korbflechterkurse durch.

Im sozialen Bereich wurde nach der Durchführung einer Machbarkeitsstudie ein vormals geschlossener Lebensmittelmarkt wieder eröffnet. Ein evangelischer Hilfsfond wurde eingerichtet, der Menschen in Armut dann unterstützt, wenn sie ansonsten durch die regulären Hilfsnetze fallen würden. Aus den zwei Dörfern Hamm und Ibersheim wurden seit 2009 über 40.000 Euro als Spenden gegeben. Diese Gelder werden z. B. dann eingesetzt, wenn Witwen in Altersarmut nicht das Geld haben, sich einen neuen Kühlschrank zu kaufen oder Familien Strom und Gas aufgrund von Schulden abgestellt werden. Die Spender sind vor allem dadurch motiviert, dass die Hilfe eindeutig den eigenen Nachbarn gilt. Manche Spendenempfänger zahlen die Gelder sogar zurück, wenn sich ihre finanzielle Situation wieder verbessert hat. Im Jahr 2014 wurde der Verein „Schulhaus“ gegründet. Das Ziel des Vereins ist die Einrichtung eines Mehrgenerationenhauses für die Kommune. Das ehemalige Schulgebäude wurde für den Zweck bereits erworben.

Die Idee der EKHN, den Kirchengemeindeaufbau mit der Dorfentwicklung zu verbinden, hat sich als sehr erfolgreiche Strategie in Hamm an Rhein erwiesen.

DorfSchmiede Freienseen im Vogelsberg
Im Dorf Freienseen hat die EKHN über lange Zeiträume hinweg Erfahrungen mit Dorfentwicklungsprozessen gesammelt. Der dortige Gemeindepfarrer i. R. Dr. Ulf Häbel hat in Freienseen früher eine evangelische Grundschule gegründet, welche ein alternatives pädagogisches Modell verfolgt. Dazu gibt es einen Waldkindergarten. Dadurch sind zahlreiche junge Familien nach Freienseen gezogen. Das neueste Großprojekt ist ein Mehrgenerationenhaus, das 2015 als gemeinnützige GmbH eröffnet wurde und sich in zwei selbst renovierten Fachwerkhäusern befindet. Die Haupt-Finanzierung der Baumaßnahmen erfolgte durch das Land Hessen sowie das Diakonische Werk Hessen-Nassau. Auch hier hat die enge Zusammenarbeit zwischen evangelischer Kirche, Diakonie und staatlichen Institutionen sich als höchst produktiv erwiesen.

Insgesamt zeigte sich bei allen Projekten, dass bei starken Führungspersönlichkeiten, langem Atem und viel Bürgerengagement die negativen Folgen des demografischen Wandels auf dem Land zumindest aktiv abgefedert werden können. Gerade das starke Gemeinschaftsgefühl der Dörfer wird als Gegengewicht zu Resignationstendenzen wahrgenommen. Verstärktes bürgerschaftliches Engagement darf jedoch nicht dazu instrumentalisiert werden, den Rückzug des Staates aus seinen sozialpolitischen Pflichttaufgaben auszugleichen.

Januar 2016
Dr. Maren Heincke, Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau