Perspektiefe 59, April 2023

Ziviler Ungehorsam: umkämpfte Idee und Praxis

HINTERGRUND: „Ziviler Ungehorsam“ als Bezeichnung regelüber­schre­i­ten­der Protestformen bleibt umkämpft: Einigen gilt er als moralische „Erpressung“ der Mehrheit durch eine Minderheit, anderen als „Streben nach kosmetischen Korrekturen innerhalb des bestehenden Systems“. Schließlich gibt es die von Robin Celicantes (2014) vertretene Sicht, dass Demokratiedefizite durch Kampagnen zivilen Ungehorsams sichtbar gemacht und überwunden werden können und dabei Akteur*innen ermächtigt, Teil des demokratischen Prozesses zu sein.

von: Matthias Blöser, Projekt Demokratie stärken, m.bloeser@zgv.info


Das moderne, liberale Verständnis von zivilem Ungehorsam in Deutschland schließt an John Rawls Gerechtigkeitstheorie (1975) und Jürgen Habermas‘ Theorie kommunikativen Handelns und seinen Überlegungen zu zivilem Ungehorsam als „Testfall für den demokratischen Rechtsstaat“ (1983) an. Habermas definiert: „Zivi­ler Ungehorsam ist ein moralisch begründeter Pro­test, dem nicht nur private Glaubensüber­zeu­gun­gen oder Eigeninteressen zugrunde liegen dürfen; er ist ein öffentlicher Akt, der in der Regel angekündigt ist und von der Polizei in seinem Ablauf kalkuliert werden kann; er schließt die vorsätzliche Verletzung einzelner Rechtsnormen ein, ohne den Gehorsam gegenüber der Rechtsordnung im Gan­zen zu affizieren; er verlangt die Bereitschaft, für die rechtlichen Folgen der Normverletzung einzustehen; die Regelverletzung, in der sich ziviler Ungehorsam äußert, hat ausschließlich symbolischen Charakter – daraus ergibt sich schon die Begrenzung auf gewaltfreie Mittel des Protests.“

Es geht also in der Regel nicht um das In­fragestellen des Rechtsstaates, sondern um bewusst „beunruhigende“ Kritik an bestimmten Aspekten, die die Akteur*innen als so ungerecht erachten, dass diese Missstände Regelüber­tretungen rechtfertigen.

Potenzial für Veränderungen

Ein Blick in die Geschichte zeigt das Potenzial für Veränderungen oder zumindest eine verstärkte öffentliche Wahrnehmung von Problemen durch im Kern gewaltfreie und bewusst Regeln verletzende kollektive Handlungen. Ein berühmtes Beispiel ist die Bürgerrechtsbewegung in den USA der 1960er-Jahre. Sie prangerte rassistische Gesetze an, um den seit 1870 geltenden Verfassungs­grund­satz der Gleichheit für Schwarze US-Bür­ger*innen einzufordern. Das hohe Rechtsgut der Gleichheit wurde über 100 Jahre durch diverse rassistische Gesetze und Handlungen verletzt. In dieser Situation sicherte die Ablehnung zivilen Ungehorsams den diskriminierenden, dem Geist der Verfassung widersprechenden Status Quo.
In einer aufgeladenen, gewalttätigen Atmosphäre haben Aktionen zivilen Ungehorsams – vor dem Hintergrund Schwarzer Militanz – einen entscheidenden Beitrag für mehr tatsächliche Gleichbe­rechtigung geleistet.

Ein anderes Beispiel für zivilen Ungehorsam ist die Anti-Apartheid-Bewegung in Südafrika mit welt­weiter Solidarität, auch von engagierten Frauen in der EKHN. Durch Boykott von Produk­ten und andere Formen der Nichtkooperation und der Kritik konnte ein fest verankertes, zutiefst rassistisches System überwunden und der Gleich­heitsgrundsatz gestärkt werden.

„Medial hörbar werden Wort­verdrehungen wie ‚Klimaterroristen‘, die von der Herausforde­rung durch die Bewe­gung ablenken: die vermutlich nicht mehr umkehrbare und durch Kipppunkte bald kaum noch zu kontrollierende Erderwärmung.“

Matthias Blöser

In beiden genannten Fällen war die Selbst­organisation der Schwarzen Betroffenen Voraus­setzung, um schließlich Verbündete zu suchen. In Deutschland zeigt die Geschichte der Bürger­rechtsbewegung der Sinti und Roma, wie wichtig Selbstorganisation im Kampf um Anerkennung ist. Ihr Hungerstreik im ehemaligen Konzentrations­lager Dachau 1980 brachte die Kritik der rassistischen Sondererfassung durch Behörden und die Forderung nach Anerkennung des Völkermords an Sinti und Roma im zweiten Weltkrieg an eine breite Öffentlichkeit. Die Unterbrechung des Re­gelbetriebs führte schließlich zu Veränderungen durch den Bundestag. Das politische System nahm die Kritik auf. Sie führte zu einer Berück­sich­tigung von bislang nicht beachteten bür­ger­schaftlichen Belangen. Hier wurden Demo­kratie und Rechts­staat nicht gefährdet, sondern gestärkt.

Recht zwischen Macht und Gerechtigkeit

„Zwischen dem Schwachen und dem Starken (…) ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Ge­­setz, das befreit.“ Diese Aussage von Pater Henri-Dominique Lacordaire 1848 im Geiste von Rous­seaus Gesellschaftsvertrag weist auf einen we­sentlichen Aspekt von Rechtsstaatlichkeit hin: Dem Recht unterwerfen sich alle Bürger*innen, um frei, gleich und sicher leben zu können. Recht ist zugleich Ergebnis von politischen Auseinander­setzungen, das nicht unbedingt dem Gemeinwohl dient, sondern Ergebnis und Vollstrecker ungleicher Machtverhältnisse sein kann. Je nachdem, welche Interessen sich durchsetzen, kann Unge­rechtigkeit Gesetz sein. Die genannten Beispiele für rassistische Diskriminierung und Entzug von bürgerlichen Rechten sollten dies zeigen.

Aktuelle Entwicklungen

Soziale Bewegungen wie die Anti-Atomkraft- und Friedensbewegung oder antifaschistische Mobili­sierungen wie „Dresden Nazifrei“, inzwischen aber jeder politischen Richtung, nutzen zivilen Unge­horsam als strategisches Mittel in Kampagnen, oft in Form von Sitzblockaden. Aktuell besonders diskutierte Beispiele liefert die Klimabewegung. Nach einer langen Fokussierung auf die bewusste Verletzung der Schulpflicht durch die Proteste von „Fridays for Future“ standen Besetzungen bestehender Kohlereviere, regionale Waldbesetzungen wie im Hambacher Forst oder Aktionen von „Extinction Rebellion“ im Mittelpunkt. Bundesweit unvergleichlich stark und hitzig werden jedoch die Aktionen der „Letzten Generation“ diskutiert. Straßenblockaden gab es vorher schon, zum Beispiel in der Bewegung gegen Studiengebühren in Hessen. Ein Grund für die heiße Debatte mag die bundesweite Ausrichtung und die Länge der Blockaden aufgrund des Festklebens sein. Dies ist vergleichbar mit Castor-Blockaden, die vor allem den Schienenverkehr betrafen, nicht so stark den Autoverkehr. Der Protest ist im Alltag spürbarer und dadurch kaum zu ignorieren. Tat­sächlich wird wenig über die Ziele der Bewegung und die Kritik an der Klimapolitik diskutiert. Selbst die bewusst begangenen Straftaten wie Nötigung und gefährlichen Eingriff in den Straßen- und Luft­verkehr werden wenig im Sinne der Verhältnis­mäßigkeit diskutiert. Medial hörbar werden Wort­verdrehungen wie „Klimaterroristen“, die von der Herausforderung durch die Bewegung ablenken: die vermutlich nicht mehr umkehrbare und durch Kipppunkte bald kaum noch zu kontrollierende Erderwärmung.

Chance für die Demokratie?

Ziviler Ungehorsam darf kein Mittel zur Durch­setzung egoistischer Zwecke sein. Eine Güter­abwägung ist immer notwendig: Bestehen andere Mittel? Ist dieses Mittel verhältnismäßig? Führt es zu einem Mehr an Gerechtigkeit? Ziviler Unge­horsam kann demokratische Aushandlungs­pro­zesse an den Punkten bereichern, die das parlamentarische System nicht genug beachtet oder bewusst ignoriert. Einer oft angeführten Gefahr, dass der Rechtsstaat außer Kraft gesetzt werde, lässt sich mit rechtsstaatlichen Mitteln und einer starken Zivilgesellschaft begegnen. Die den Staat herausfordernde Bewegung muss offen sein für Dialog anstatt autoritär ihre Interessen zu ver­treten. Dann kann diese Herausforderung die Demokratie tatsächlich bereichern – und im Falle der Klimabewegung dazu beitragen, dass die derzeit gefährdeten Grundlagen für Leben und Demokratie erhalten bleiben.

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Literatur

Robin Celikates, Ziviler Ungehor­sam – zwischen Gewaltfreiheit und Gewalt. In: Franziska Martinsen/Oliver Flügel-Martinsen (Hrsg.), Gewaltbefragungen (211–226). Bielefeld: transcript Verlag. 2014

Jürgen Habermas, Ziviler Unge­hor­sam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, in: Peter Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt/M. 1983

John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975

Howard Zinn, Disobedience and Democracy, New York 1968

Howard Zinn, The Problem is Civil Obedience: Transcript of a Speech Delivered by Howard Zinn at a peace rally on Boston Common on May 5, 1971