Perspektiefe 59, April 2023

„Viel Tapferkeit und Aufopferung, aber fast nirgends Civilcourage“ – Ziviler Ungehorsam und Zivilcourage aus theologischer Perspektive

THEOLOGISCHE BETRACHTUNG: „Wir haben in diesen Jahren viel Tapferkeit und Aufopferung, aber fast nirgends Civilcourage gefunden, auch bei uns selbst nicht“ (Bonhoeffer 1998, 24). So Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) in seinem bemerkenswerten Essay „Nach zehn Jahren“, den er zur Jahreswende 1942/43 als eine Art persönlichen Rechenschaftsbericht nach zehn Jahren in der politischen Verschwörung für sich und seine Mitver­schwörer verfasste. Doch was ist eigentlich diese Zivilcourage, deren Mangel hier beklagt wird? Und wie verhält sie sich zum zivilen Ungehorsam? Und was ist aus theologischer Perspektive dazu zu sagen?

von: PD Dr. Christine Schliesser, Universität Fribourg


Zunächst einmal fällt auf, dass zu dem Begriff Zivilcourage in der evangelischen theologischen Ethik kaum etwas zu finden ist. So folgt etwa in der umfassenden Theologischen Realenzyklopädie TRE auf „Zisterzienser“ unmittelbar die „Zivilreligion“. Folgt man dem Begriff der Courage, also Mut bzw. Tapferkeit, so lässt sich die Zivilcourage auch aus theologischer Perspek­tive als Tugend entfalten. Wie jede ethische Tu­gend steht die Zivilcourage in der Mitte von zwei Extremen, dem Opportunismus auf der einen Seite und dem bornierten Durchsetzen eigener Vorstellungen auf der anderen. Der zivile Unge­horsam nun ist eng verbunden mit der Zivilcou­rage. Ziviler Ungehorsam stellt eine spezifische Form der Zivilcourage dar, insbesondere wenn diese Formen annimmt, die nicht gesetzeskonform sind. Zivilen Ungehorsam definiert Jürgen Habermas als „Akte, die ihrer Form nach illegal sind, obwohl sie unter Berufung auf die gemeinsam anerkannten Legitimationsgrundlagen unserer demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung ausgeführt werden“ (Habermas 1983, 33). Anders als im klassischen Widerstandsrecht zielen diese Akte nicht auf den Sturz eines ungerechten Herr­schers ab, sondern sie weisen auf einen Miss­stand hin. Sie dienen also dazu, den normativen Grundlagen eines Staatswesens (wieder) Geltung zu verschaffen. Ziviler Ungehorsam zeichnet sich oftmals durch zeichenhaft-prophetisches Handeln aus und ist in der Regel gewaltfrei. Zugleich setzt er sich bewusst den Möglichkeiten einer rechtsstaatlichen Strafe aus.

„Es ist die Befreiung zur Verantwortung, die Christinnen und Chris­ten auszeichnet. Dies umfasst auch zivil­couragiertes Handeln, das zivilem Ungehor­sam zugrunde liegt.“

Dr. Christine Schliesser

Wenn Dietrich Bonhoeffer nun Zivilcourage bzw. zivilen Ungehorsam bei sich selbst und anderen vermisst, so weist er zugleich auf einen möglichen Grund dafür hin. „Civilcourage aber kann nur aus der freien Verantwortlichkeit des freien Menschen wachsen. Die Deutschen fangen erst heute an zu entdecken, was freie Verantwor­tung heißt.“ (Bonhoeffer 1998, 24). Zivilcourage und ziviler Ungehorsam haben also ganz zentral mit Verantwortung zu tun. Doch was genau meint Bonhoeffer mit Verantwortung? Bonhoeffer entfaltet diesen schillernden Begriff – bis heute so oft gebraucht wie missbraucht – christologisch. „Die­ses Leben als Antwort auf das Leben Jesu Christi (als Ja und Nein über unser Leben) nennen wir ‚Ver­antwortung‘“ (Bonhoeffer 1992, 254). Dabei zeigt sich Verantwortung stets zweidimensional, nämlich als Bindung und als Freiheit. Beide Di­men­sionen werden wiederum zweifach strukturiert: Die Bindung als Stellvertretung und Wirklich­keits­gemäßheit, die Freiheit als Schuldübernahme und freie Tat. Für unsere Überlegungen zu zivilem Ungehorsam sind es vor allem die Aspekte der Wirklichkeitsgemäßheit und der freien Tat, die hier von Interesse sind (vgl. auch Schliesser 2018). 

Was also heißt hier Wirklichkeitsgemäßheit? Für Bonhoeffer geht es dabei nicht um die Wirk­lich­keit, sondern um den Wirklichen. Wirklichkeit ist eine Person, nämlich Jesus Christus. Bonhoeffer kann daher auch von der Christuswirklichkeit reden. „In Christus begegnet uns das Angebot, an der Gotteswirklichkeit und an der Weltwirklichkeit zugleich teil zu bekommen, eines nicht ohne das andere. Die Wirklichkeit Gottes erschließt sich nicht anders als indem sie mich ganz in die Welt­wirklichkeit hineinstellt, die Weltwirklichkeit aber finde ich immer schon getragen, angenommen, versöhnt in der Wirklichkeit Gottes vor“ (Bonhoef­fer 1992, 40). Was hier auf den ersten Blick vielleicht etwas theologisch verklausuliert anmutet, hat eine unglaubliche Sprengkraft. Denn das Welt­liche kann nach Bonhoeffer nicht vom Christlichen getrennt werden. Unterschieden ja – sonst droht religiöser Fundamentalismus! –, aber nicht getrennt. „Das bedeutet eine geradezu revolutionäre Neuordnung unseres Wirklichkeitsverständnisses. Bonhoeffers Zuordnung von Wirklichkeitsge­mäß­heit und Christusgemäßheit behaftet die Wirk­lichkeit bei ihrem Christus- und Gottesbezug. Es gibt keine christus- oder gottesneutralen Zonen“ (Beint­ker 2017, 51). Bonhoeffer grenzt sich hier also ganz klar ab von einem falsch verstandenen Verständnis der sogenannten „Zwei-Reiche-Lehre“, die zu einer „Zwei-Bereiche-Lehre“ pervertiert ist. Folgt man diesem Missverständnis, käme dem geistlichen Reich kaum mehr Relevanz für das weltliche Reich zu. Anders gesagt: Die christliche Existenz wird in der Öffentlichkeit unsichtbar. Mit den konkreten Auswirkungen einer solchen Fehl­interpretation sah sich Bonhoeffer einerseits bei den Deutschen Christen konfrontiert, andererseits aber auch bei denen, die den Rück­zug in die innere Spiritualität suchten. Zivilcourage und auch ziviler Ungehorsam lassen sich also nach Bon­hoeffer nicht auf den öffentlich-weltli­chen Raum reduzieren. Stattdessen erhalten auch sie eine zutiefst theologische Verankerung in der einen, durch Christus versöhnten Wirklichkeit.


Mahnmal an die Flugblatt­aktion der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ um die Geschwister Scholl vor der Ludwig-Maiximilian-Universität in München (Foto: Peter Berger - AdobeStock)


Dies wird noch deutlicher in Bonhoeffers Aus­führungen zur freien Tat, mit der er die Zivilcourage verbindet. „Ohne Rückendeckung durch Men­schen, Umstände oder Prinzipien … handelt der Verantwortliche in der Freiheit des eigenen Selbst … in der allein und gänzlich befreienden Bindung an Gott und den Nächsten“ (Bonhoeffer 1992, 284). Es ist die Befreiung zur Verantwortung, die Christinnen und Christen auszeichnet. Dies umfasst auch zivilcouragiertes Handeln, das zivilem Ungehorsam zugrunde liegt. Zugleich ist Bon­hoeffer kein Michael Kohlhaas, der sich nach der Devise Fiat iustitia et pereat mundus! und ohne Rücksicht auf Verluste die Bahn bricht.

Aus theologischer Perspektive lässt sich also zi­viler Ungehorsam in ein christologisch orientier­tes Verantwortungsverständnis einordnen. Kon­krete Akte zivilen Ungehorsams müssen sich da­bei stets befragen lassen, inwieweit sie an Gott und den anderen Menschen orientiert sind. Die­ses freie verantwortliche Handeln hat keine Ga­rantie auf Richtigkeit, sondern geschieht im Zwie­licht der Geschichte. Zugleich gilt: „Sie [die freie verantwortliche Tat] beruht auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Verge­bung und Trost zuspricht“ (Bonhoeffer 1998, 24).

 


Literatur

Michael Beintker: Gebet, Gottes Handeln und menschliches Handeln im Anschluss an Dietrich Bonhoeffer, in: Bonhoeffer Rundbrief 115 (2017), 32–52.

Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (= Dietrich Bonhoeffer Werke Bd. 8), hg. v. Christian Gremmels u.a., Gütersloh 1998.

Dietrich Bonhoeffer: Ethik (= Dietrich Bonhoeffer Werke Bd. 6), hg. v. Ilse Tödt u.a., München 1992.

Jürgen Habermas: Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik, in: Peter Glotz (Hg.): Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, Frankfurt a.M. 1983.

Schliesser, Christine: „Zivilcourage. Ein ‚theologischer Begriff‘?“, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 62 (2018), 89–101.