Perspektiefe 60, September 2023

Die Veränderung der Arten­vielfalt in Deutschland

HINTERGRUND: Mit dem zunehmenden Wissen über den Rückgang von Tier-, Pflanzen- und Pilzarten auf regionaler und globaler Ebene, der ab den 1960er-Jahren in ersten globalen Roten Listen dokumentiert wurde, und den vermehrten Hinweisen aus der Wissenschaft auf die Bedeutung der Arten und Ökosysteme als Lebensgrundlage des Menschen, fand die Erkenntnis über die Gefährdung der biologischen Vielfalt – mithin die Biodiversitätskrise – weltweit und damit auch in Deutschland Eingang in den gesellschaftlichen und politischen Diskurs. 

von: Dr. Clara Frasconi Wendt, Dr. Detlev Metzing, Dr. Sandra Balzer, Bundesamt für Naturschutz


Zahlreiche nationale und internationale Kon­ventionen und Abkommen, Regelungen und Gesetze adressieren heute den Verlust der biologischen Vielfalt und die Notwendigkeit ihres Schutzes als allgemein anerkanntes, gesamtgesellschaftliches Ziel.

Der bedeutendste globale Rahmen ist das 1992 vereinbarte Übereinkommen über die biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, CBD). Für den Erhalt der drei Ebenen biologischer Vielfalt, nämlich der genetischen Vielfalt der Arten, der Artenvielfalt und der Vielfalt der Öko­systeme, werden durch die CBD ambitionierte Kernziele definiert, die in Abständen überprüft und aktualisiert werden. 2022 wurde auf der CBD-Vertrags­staa­ten­konferenz der Kunming-Montreal-Biodiversi­täts­rahmen (Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework, GBF) vereinbart. Globale Hauptziele dieses Übereinkommens sind u. a. die Wieder­herstellung von 30 % der geschädigten Ökosys­teme weltweit bis 2030 sowie der Stopp des Aus­sterbens bekannter Arten sowie die Ver­ringerung des Aussterberisikos und der Aus­sterberate aller Arten auf 10 % bis 2050.

Auf europäischer Ebene wird die 2020 vorgelegte EU-Biodiversitätsstrategie für 2030 als Ele­ment des Green Deals umgesetzt. Die Vision ist, dass bis 2050 weltweit alle Ökosysteme wiederhergestellt, widerstandsfähig und angemessen geschützt sind. Als bis 2030 umzusetzende Maß­nahmen sollen u. a. 30 % der Land- und Meeres­gebiete effektiven Schutz erhalten, mindestens ein Drittel davon soll streng geschützt werden, der Erhaltungszustand von Lebensräumen und Arten soll sich nicht mehr verschlechtern bzw. für mindestens 30 % einen günstigen Stand erreichen oder zumindest einen positiven Trend aufweisen. Außerdem soll der negative Bestandstrend der Bestäuber umgekehrt werden und die Anzahl der auf der Roten Liste stehenden, durch invasive Neobiota bedrohten Arten halbiert werden. 

Auf nationaler Ebene wurde 2007 vom Bun­deskabinett die Nationale Strategie zur bio­logischen Vielfalt (NBS) beschlossen. Die darin genannten Ziele, wie die Trendumkehr beim Rück­gang wildlebender Arten und die Verringerung des Anteils der vom Aussterben bedrohten oder stark gefährdeten Arten, wurden nicht oder nur zum Teil erreicht. Derzeit wird die Nationale Strategie überarbeitet (NBS 2030), um die Ziele des Kunming-Montreal-Biodiversitätsrahmens und der EU-Biodiversitätsstrategie zur Erhaltung der biologischen Vielfalt zu unterstützen.
Für Deutschland wird die Gefährdung der Arten entlang einheitlicher Kriterien eingestuft und in bundesweiten Roten Listen veröffentlicht. Ent­lang der Kriterien „aktuelle Bestandssituation“,  „langfristiger und kurzfristiger Bestandstrend“ und „Risikofaktoren“ wurden inzwischen mehr als 60 Ar­tengruppen mit knapp 35.000 Taxa (Arten und Unterarten) bewertet. Die in einem Zyklus seit 2009 durch das Bundesamt für Naturschutz veröffentlichten Roten Listen der Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands führen 29 % der bewerteten Taxa (Arten und Unterarten) als bestandsgefährdet oder bereits ausgestorben oder verschollen auf (BfN 20231). Etwa 31 % der Pflanzen, 20 % der Pilze und Flechten, 35 % der Wirbeltiere und 32 % der wirbellosen Tiere sind bestandsgefährdet oder bereits ausgestorben. Trotz erheblicher Anstren­gungen des Natur- und Artenschutzes konnte der Rückgang der Arten in Deutschland bisher nicht gestoppt werden.

Bei der Mehrheit der Ökosysteme weltweit ist der rasante Rückgang der biologischen Vielfalt auf zahlreiche menschliche Einflüsse zurückzuführen (IPBES, 2019). In seiner globalen Bewertung zum Stand der Biodiversität nennt das Intergouvernementale Gremium für Biodiversität und Öko­­system­dienstleistungen (IPBES) Veränderungen in der Land- und Meeresnutzung, Umweltver­schmut­­­zung, Klimawandel, direkte Ausbeutung von Orga­nismen und invasive gebietsfremde Ar­ten als die wichtigsten Faktoren für die Verände­rungen und den Verlust der biologischen Vielfalt (IPBES, 20192).

„Die […] seit 2009 durch das Bundesamt für Naturschutz ver­öf­fentlichten Roten Listen der Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands füh­ren 29 % der bewer­te­ten Taxa (Arten und Unterarten) als be­­standsgefährdet oder bereits ausge­stor­ben oder verschollen auf.“

Dr. Sandra Balzer, Dr. Detlev Metzing, Dr. Clara Frasconi Wendt

In Deutschland ist für die Insekten, die rund drei Viertel der bekannten Tierarten umfassen, festzuhalten, dass die wesentlichen Ursachen für ihren Rückgang auf den Verlust von Lebens­räumen und die qualitative Verschlechterung von Habitaten sowie die fehlende Vernetzung von Habitaten, zurückzuführen ist. Dies zeigt die Ana­lyse der bundesweiten Roten Listen der In­sekten (Ries et al., 20193).

Mit dem Klimawandel treten auch in Deutsch­land Änderungen der Artengemeinschaften auf. Beispielweise können Arten im Zuge des Klima­wandels ihre Vorkommensareale erweitern: Die Südliche Mosaikjungfer (Aeshna affinis), die Feuerlibelle (Crocothemis erythraea) und die Gottesanbeterin (Mantis religiosa) breiten sich derzeit nach Norden aus. Letztere stammt aus Afrika und ist in Europa und Asien zugewandert. Bei den Pflanzen hat der Meerfenchel (Crithmum maritimum) den deutschen Küstenraum von Westen her erreicht, die Stechpalme breitet sich nach Nordosten aus und in den Gebirgen wandern verschiedene Arten langsam in die Höhe. Arten, die sich aus ihrem natürlichen Verbreitungs­gebiet ohne menschliche Einwirkung in benachbarte Gebiete ausbreiten (Arealerweiterung), gelten dort im Gegensatz zu Neophyten nicht als gebietsfremd.

Anders als zugewanderte Arten, sind invasive gebietsfremde Arten, Arten die durch menschlichen Einfluss beabsichtigt oder unbeabsichtigt eingebracht werden, z. B. durch Handel, Transport von Gütern und in oder an anderen Organismen. Sie haben negative Auswirkungen auf andere Arten, Lebensgemeinschaften oder Biotope. Invasive gebietsfremde Arten sind durch eine große Anpassungsfähigkeit sowie ein hohes Reproduktions- und Ausbreitungspotenzial charakterisiert. Der Waschbär (Procyon lotor), ein aus Nordamerika stammendes Raubtier, ist eine invasive Art die mittlerweile in ganz Deutschland vorkommt und die aufgrund ihres Fressverhaltens und ihrer Konkurrenz zu anderen Arten die Biodiversität und die Ökosysteme gefährdet.

Um dem Artenrückgang entgegenzuwirken, sind Maßnahmen zur Eindämmung der Gefähr­dungsursachen und zum Erhalt und zur Wieder­herstellung geeigneter Lebensräume notwendig. Neben dem z. B. Verzicht auf die Ausbringung von Pflanzenschutzmitteln in und um Schutzgebiete, der signifikanten Reduktion weiterer negativer Ein­flüsse auf die Ökosysteme einschließlich der land- und forstwirtschaftlich genutzten Gebiete, sind Wiederansiedlungen von Arten erfolgreiche An­sätze. Im Rahmen von Wiederansied­lungspro­grammen werden Populationen einer bestimmten Art in ausgewählten Gebieten absichtlich wiedereingeführt, in denen sie einst vorkam. So liefen z. T. erfolgreiche Wiederansiedlungsprojekte, um Populationen des Europäischen Bibers, der Mitte des 20. Jahrhunderts nur in drei Gebieten in Europa überdauert hat, in Deutschland wieder­anzusiedeln. Seit seiner Wiederansiedlung breitet er sich stetig in Deutschland aus. Bei einem lang­fristigen, sehr stark negativen Bestandstrend (Zeit­raum: letzte 50–150 Jahre bis heute), zeigt er eine deutliche Zunahme beim kurzfristigen Be­stand­trend (Zeitraum: letzte 10–25 Jahre bis heute) und ist daher aktuell nur noch auf der Vorwarnliste der Roten Liste geführt (Rote Liste Säugetiere, Meinig et al. 2020).

Foto: JMP de Nieuwburgh - Adebe Stock

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Quellen

1 BfN (2023): Rote Listen Tiere, Pflanzen und Pilze – www.bfn.de/rote-listen-tiere-pflanzen-und-pilze (abgerufen am 21.06.2023).
2 IPBES (2019): Global assessment report on biodiversity and ecosystem services of the Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services. E. S. Brondizio, J. Settele, S. Díaz, and H. T. Ngo (editors). IPBES secretariat, Bonn, Germany. 1148 pages.
3 Ries, M., Reinhardt, T., Nigmann, U., Balzer, S. (2019). Analyse der bundesweiten Roten Listen zum Rückgang der Insekten in Deutschland. Natur und Landschaft, Heft 6/7.

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Bundesamt für Naturschutz

Weiterführende Informa­tionen und Literatur­hin­weise finden sich zu den Themen Rote Liste, Neobiota und Aktionsprogramm Insekten­schutz auf den Internetseiten des Bundesamts für Natur­schutz (www.bfn.de).