Perspektiefe 60, September 2023

Rechte für die Natur? Impulse für eine ökozentrische Ethik

UMWELTETHISCHE BETRACHTUNG

von: Prof. Dr. Traugott Jähnichen, Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre an der Ruhr-Universität Bochum


1. Rechte nur für Menschen?

Die Vorstellung, nicht-menschlichen Lebe­wesen oder der Natur insgesamt ein­klagbare Rechte einzuräumen, erscheint schwer vorstellbar. So hat der frühere EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber in seiner Rechts­ethik betont, dass das Konzept der „Rechte“ im Blick auf menschliche Personen entwickelt wurde und es unklar bleibt, inwiefern Naturgegenstände als „Rechtssubjekte anerkannt werden sollen“1. Vertreter dieser Forderung heben demgegenüber hervor, dass eine Ausweitung der Rechts­kon­zeption auf Tiere, wie es bereits 1780 Jeremy Bentham gefordert hatte, und letztlich auf alle Bereiche der Natur, so der US-Jurist Christopher Stone zu Beginn der 1970er-Jahre2, zu einem besseren Naturschutz führen würde. Diese Idee ist, obwohl es nach wie vor grundlegende Anfra­gen gibt, vereinzelt schon rechtlich umgesetzt worden, seit 2008 in Ecuador und jüngst in Spanien.

2. Impulse der Überschreitung einer anthropozentrischen Perspektive zum Biozentrismus bzw. zum Ökozentrismus

Eine Konzeption des über menschliche Interessen hinausgehenden „Eigenwerts der natürlichen Mit­welt“3 mit entsprechenden Rechtsfolgen hat in der deutschsprachigen Debatte der Philosoph Klaus Michael Meyer-Abich (1936–2018) begründet. Ausgehend von der „naturgeschichtliche(n) Ver­wandtschaft des Menschen mit der natürlichen Mitwelt“ (255) betont er „das den Menschen und allen anderen Lebewesen, Tieren und Pflanzen, sowie den Elementen Gemeine, die Allgemeinheit, in der sie geleichermaßen stehen.“ (258) Aufgrund dieser natürlichen Verbundenheit entwickelt er eine Ethik, die nicht nur, wie in der klassischen Ethik, in einer anthropozentrischen Perspektive die Interessen aller Mitmenschen bzw. der zukünftigen Generationen beinhaltet, sondern letztlich die gesamte Ökosphäre einbezieht. Auch die anorganische Welt ist, da sie nicht nur als Ressource für das Lebendige zu verstehen ist, sondern ihr ebenfalls ein Eigenwert zukommt, zu integrieren. Meyer-Abich begründet diese Haltung damit, dass weder Menschen noch andere Lebewesen, „sich so verhalten (dürfen), als sei die übrige Welt und somit die Welt insgesamt nur für sie da, … als sei der Teil der Inbegriff des Ganzen.“ (263) Dieses ethische Konzept ist rechtlich von ihm so konkretisiert worden, dass in Analogie zur Entwicklung des Sozialstaates seit dem späten 19. Jahrhundert dieser angesichts der ökologischen Überlebens­krise durch einen „Naturstaat“ (269) zu erweitern ist. So soll der Schutz der Menschenwürde (GG Art. 1) verfassungsrechtlich durch eine entsprechende Achtung des Eigenwerts der natürlichen Mitwelt ergänzt und diese konkret im Blick auf Eigentumsrechte in Ergänzung zur Sozialbindung (GG Art. 14, 2) durch eine „Naturbindung“ des Eigentums festgeschrieben werden. Auf der Basis dieser verfassungsrechtlichen Verankerung ist der Mitwelt der Status einer Rechtsperson zu ver­leihen. Ähnlich wie im Wirtschaftsrecht, das Un­ternehmen als juristische Personen in die Rechts­sphäre einbezieht und diese durch natür­liche Personen vertreten lässt, sollen Lebewesen und Ele­mente der Ökosphäre als juristische Per­sonen anerkannt und durch zu benennende „Natur­anwälte“ vertreten werden.

„Eine Erinnerung an biblische Traditionen eröffnet neue Sicht­wei­sen, da hier Tiere und andere Be­reiche der Natur nicht nur in die Schöpfungs­gemein­schaft, sondern in die Rechts- und auch in die Kultgemeinschaft mit Gott einbezogen sind.“

Prof. Dr. Traugott Jähnichen

Demgegenüber spricht sich Wolfgang Huber ähnlich wie Meyer-Abich für eine rechtsverbindlichere Gestaltung des menschlichen Natur­um­gangs aus, problematisiert allerdings die Denk­figur der „Naturrechte“ und will ausgehend von dem Gedanken der Naturwürde andere Rechts­instrumente zur Verankerung menschlicher Pflich­ten entwickeln. Den Begriff der juristischen Person hält Huber im Blick auf die Natur nicht für hilfreich, da dieser Status durch „staatliche Festlegung … gewährt oder entzogen werden kann“. (304) Demgegenüber führt Huber den Gedanken der Naturwürde ein, welche nicht von menschlicher Anerkennung abhängig ist, sondern „ihren Be­stand in sich selbst“ (313) hat und entsprechende menschliche Verantwortung begründet. Hier ar­gu­mentiert Huber schöpfungstheologisch: „Alle Ge­schöpfe sind auf den Schöpfer bezogen und von seiner Güte abhängig; alle verfügen nur über einen begrenzten Lebensraum und eine begrenz­te Lebensspanne; alle sind darauf angewiesen … eine Lösung (zu) finde(t,n), die den einzelnen das Leben inmitten von anderem Leben möglich macht.“ (314) Auf diese Weise lernt die Menschheit das der Natur eigene Maß zu achten, das nicht durch ein Äquivalent zu ersetzen ist. Daraus folgt eine Ethik der Selbstbegrenzung, die sich wesentlich in einem „ökologische(n) Umbau der Rechts­ordnung“ (317) niederzuschlagen hat. In diesem Sinn sind die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen, was bisher jedoch im deutschen Grund­­gesetz nur unzureichend verankert wurde.4

3. Biblische Impulse für einen Subjekt­charakter der nicht-menschlichen Natur

Eine Erinnerung an biblische Traditionen eröffnet neue Sichtweisen, da hier Tiere und andere Be­reiche der Natur nicht nur in die Schöpfungs­gemeinschaft, sondern in die Rechts- und auch in die Kultgemeinschaft mit Gott einbezogen sind. In vielen biblischen Texten wird eine eindrucksvolle ökologische Sensibilität deutlich. Indem nicht-menschliche Geschöpfe mit dem Schöpfer kommunizieren (vgl. etwa Ps 148), an Akten der Buße teilnehmen (vgl. Jona 3, 7f), sich über eine neue Zuwendung Gottes freuen (Joel 2, 21f) und alle Lebewesen in den Noahbund (Gen 9, 10) sowie Tiere in den Sinaibund (Ex.  20, 10 / Dtn 5, 14) integriert sind, ergibt sich in theologischer Per­spektive die Anerkennung ihrer Würde wie ihrer Rechte. Ein Vergleichspunkt ist der rechtliche Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens, dem volle Schutzrechte zukommen, wobei jedoch in Konfliktfällen eine Straffreiheit unter bestimmten Voraussetzungen, wie im § 218 geregelt, eingeräumt wird. In einer gewissen Entsprechung soll­ten auch nicht-menschlichen Lebewesen und den natürlichen Elementen abgestufte, aber über den bisherigen Schutz hinausgehende Rechte verliehen werden, um sie auf diese Weise besser zu schützen. Zwar können solche Rechte nur durch ein advokatorisches Handeln von Menschen geltend gemacht werden, dies gilt jedoch auch für vorgeburtliches menschliches Leben.
Ein konkretes Beispiel ist das in Spanien geltende Recht: Die Lagune Mar Menor erhielt als erstes Ökosystem in Europa den Rechtsstatus einer „juristischen Person“, sodass alle Bürger Spa­niens für dieses Ökosystem Schadenersatz einklagen können. Das Ziel ist es, dass alle wirtschaftlichen Akteur*innen im Umfeld der Lagune nunmehr nachweisen müssen, dass sie keine irreversiblen Schäden verursachen. Indem ähnliche Naturrechte stellvertretend eingeklagt werden könnten, würde in Zukunft jeder Eingriff in die Lebensrechte von Tieren und Pflanzen sowie in die Integrität der natürlichen Elemente mit einer deutlichen Beweislast auf Seiten von Verur­sachen­den von Schäden verknüpft werden. Denn nur diejenigen, für die etwas eingeklagt werden kann, zählen im politischen Entscheidungsprozess, so der Münchener Juraprofessor Jens Kersten. Insbesondere der Schutz nicht-ersetzbarer Lebe­wesen muss als Ausdruck der Naturwürde mit entsprechend starken, durchsetzbaren Rechten verknüpft werden.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen soll­ten in der EU Rechte der Natur verankert werden. Diese wären abhängig von einem advokatorischen menschlichen Handeln, sie sind jedoch als Rechte durchsetzungsfähig und können zu einer deutlichen Stärkung des Schutzes der Natur führen. In diesem Sinn ist das Instrument von Na­turrechten geeignet, um den biblischen Ge­danken der Ehrfurcht vor den Mitgeschöpfen – allgemein gesprochen: die ethische Maxime der Naturwürde – zu konkretisieren.


Quellen:

1 Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 1996, S. 303. Folgende Zitate von Huber werden nach diesem Band mit Seitenangabe in Klammern angegeben.
2 Vgl. Christopher Stone, Should Trees Have a Standing? Toward Rights for Natural Objects, Los Altos 1974 (dt. ders., Umwelt vor Gericht, München 1987).
3 Vgl. kurz und prägnant: Klaus Michael Meyer-Abich, Eigenwert der natürlichen Mitwelt und Rechtsgemeinschaft der Natur, in: Ökologische Theologie. Perspektiven zur Orientierung, hrsg. von Günter Altner, Stuttgart 1989, S. 254–276. Zitate von Meyer-Abich werden im Folgenden nach diesem Aufsatz mit Seitenangabe in Klammern angegeben.
4 Das 1994 in Art. 20a GG eingeführte Änderungsgesetz spricht von einem Schutz „auch in Verantwortung für die künftigen Generationen“ der „natürlichen Lebensgrundlagen“, allerdings unter den Vorbehalten des Handelns von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion.