Perspektiefe 61, Dezember 2023

Alles bleibt anders – Zukunftsbilder der Jugend ­in Transformationszeiten

HINTERGRUND: Eine Gesellschaft, die junge Menschen auch zukünftig als aktive demokratische Bürgerinnen und Bürger sehen will, tut gut daran, ihren differenzierten, manchmal auch ambivalenten Stimmen Gehör zu schenken.

von: Hanna Lorenzen, Generalsekretärin, Evangelische Akademien in Deutschland e. V. (EAD), www.evangelische-akademien.de


Die Erfahrungswelten und das Aufwachsen junger Menschen sind heute geprägt von miteinander verschränkten globalen Kri­sen. Die dauerhafte Präsenz der Krise und des gesellschaftlichen Wandels wirkt sich auch auf den Blick aus, den junge Menschen auf ihre eigene und die gesellschaftliche Zukunft haben. Dabei unterscheiden junge Menschen durchaus zwischen der gesellschaftlichen und der persönlichen Ebene. Eine Gesellschaft, die junge Men­schen auch zukünftig als aktive demokratische Bürgerinnen und Bürger sehen will, tut gut daran, ihren differenzierten, manchmal auch ambivalenten Stimmen Gehör zu schenken.

Der junge Blick auf die Zukunft: Gesellschaftlich pessimistisch, persönlich zuversichtlich

Kriege, Klima, Corona, Inflation – offensichtlich häufen sich Entwicklungen, die über das hinausgehen, was eine Gesellschaft im Modus des Normalbetriebs bearbeiten kann. Gerade für Kin­der und Jugendliche ist das schmerzlich spürbar. Verschiedene Studien zeigen, dass Zukunfts­ängste und Gefährdungen der psychischen Ge­sundheit in der jungen Generation zunehmen: Nach der Trendstudie „Jugend in Deutschland“ (2022) machten sich Mitte des Jahres 2022 86 Prozent der jungen Generation im Alter von 14 bis 29 Jahren Sorgen um ihre Zukunft. 68 Prozent haben Angst vor dem Ukrainekrieg und dass dieser sich in Europa ausweiten könnte (46 Prozent). Es folgen mit 55 Prozent die Sorge und Angst vor dem Klimawandel. Die Mehrheit blickt pessimis­tisch in die Zukunft, was die gesellschaftspolitische Lage betrifft.

„Junge Menschen sind zudem durchaus kämp­ferisch, wenn es um ihre Rechte in der Ju­gend­phase geht. Jungsein bleibt auch angesichts der ‚Dauer­präsenz der Krisen‘ eine Zeit des Auf­bruchs und des Ausprobierens.“
Hanna Lorenzen

(Foto: Vanja Obad)

Noch wirkt sich dies jedoch nicht auf die persönlichen Zukunftsperspektiven junger Menschen aus. Mit Blick auf den persönlichen Lebensweg sind junge Menschen mehrheitlich zuversichtlich eingestellt. In dieser ambivalent anmutenden Si­tua­tion spiegelt sich eine große Stärke der jungen Generation wider: Junge Menschen haben globale Krisen immer nur als miteinander verkettete Krisen erlebt und kennen nichts anderes als den Zustand, ihnen auch medial ständig ausgesetzt zu sein. Junge Menschen wachsen mit dem Be­wusst­sein auf, dass Krisen dauerhaft präsent sind und es kein „Zurück“ in ein beruhigendes Stabi­litätsgefühl oder in ein als einfacher wahrgenommenes „Früher“ gibt. Sie sehen sich zusätzlich mit großen gesellschaftlichen Transformations­an­sprü­chen konfrontiert, die mit sehr unspezifischen Forderungen nach einem grundlegenden Kurs­wechsel unserer Wirtschafts- und Lebensweise einhergehen. Dieses Bewusstsein führt bei jungen Menschen jedoch nicht zu persönlicher Resi­g­nation, weder in den eigenen Einstellungen noch auf der individuellen Handlungsebene. Die große Frage ist aber, wie nachhaltig diese hoffnungsvolle Perspektive auf die persönliche Zukunft ist. Von dieser Perspektive wird abhängen, ob sich junge Menschen auch in Zukunft demokratisch beteiligen und ihre Kräfte in die Gestaltung von Gesell­schaft einbringen werden.

Junge Menschen sind politisch interessiert und engagiert, fühlen sich aber zu wenig gehört

Mehr als zwei Drittel der jungen Generation sind nach der Befragung der Vodafone-Stiftung un­zufrieden oder sehr unzufrieden mit der Politik (2019). Eine Mehrheit der Jugendlichen sieht die eigenen Interessen in der gegenwärtigen Politik zu wenig vertreten. So mussten junge Menschen beispielsweise in der Corona-Pandemie im beson­deren Maße zurückstecken und auf Erfahrungen verzichten, die in der Lebensphase Jugend bio­grafisch besonders prägend sind. Zahlreiche Studien belegen, dass junge Menschen durch die materiellen, psychosozialen und kommunikativen Folgen der einschränkenden Maßnahmen der Corona-Pandemie in allen Lebensbereichen von Familie, Schule bis in den Freizeitbereich überdurchschnittlich stark belastet waren. Zugleich wurden die Interessen junger Menschen vor allem zu Beginn der Corona-Pandemie kaum diskutiert. Junge Menschen fanden sich in der gesellschaftspolitischen Hackordnung weit unten wieder. Von einem ganzheitlichen Bildungsverständnis mit lokalen Bildungslandschaften, die sich auch außerhalb der Institution Schule verorten, außerschulische Bildungsangebote und informelle Bil­dungspotenziale zum Beispiel in Jugendbewe­gungen mitdenken und die Anwaltsfunktion für die Interessen Jugendlicher außerhalb des bildungspolitischen Referenzrahmens einbringen, sind wir auch nach der Corona-Pandemie noch weit entfernt. Der aktuelle Regierungsentwurf der Bun­des­regierung für den Haushalt 2024 sieht erstmal eine Kürzung im Jugendbereich um knapp zwanzig Prozent vor.

Erfahrungen mangelnden Gehörtwerdens führen bei einem Teil der Jugendlichen zu einer stärkeren Politisierung bzw. politischem Protest­handeln, was sich – wie zuletzt in den Ergebnissen der Landtagswahlen in Hessen und Bayern – teilweise auch in Protestwahlverhalten niederschlägt. Zu­gleich sind junge Menschen gesellschaftlich engagiert und politisch interessiert wie lange nicht. Laut der Studie „Flexkultur in Deutschland“ engagiert sich fast jeder zweite junge Mensch zwischen 15 und 30 Jahren im politischen oder sozia­len Bereich. Dies hat sich gerade während der Corona-Pandemie zum Beispiel im Enga­ge­ment speziell auch für ältere Menschen eindrücklich gezeigt. Insbesondere die Klimakrise führt zu verschiedenen Engagement-, Bewegungs- und Pro­test­formen, die mehrheitlich von jungen Men­schen getragen werden.

Junge Menschen sind zudem durchaus kämpferisch, wenn es um ihre Rechte in der Ju­gend­phase geht. Jungsein bleibt auch angesichts der „Dauerpräsenz der Krisen“ eine Zeit des Auf­bruchs und des Ausprobierens. Es ist daher nicht verwunderlich, dass junge Menschen die Frage stellen, welche Entfaltungsmöglichkeiten sie auch im Vergleich zu älteren Generationen heute haben. Ein Podium auf dem Evangelischen Kirchentag mit dem Titel „Wer hat’s verbockt?“ stellte die Schuld­frage in der aktuellen Klimasituation in den Mittelpunkt. Die Frage, wer in der Vergangenheit für Fehlentwicklungen mit Blick auf die Klimakrise verantwortlich zu machen ist und wer folglich aktuell und in Zukunft kürzertreten sollte, ist eine Generationenfrage, die viele junge Menschen umtreibt. Diese natürliche Spannung sollte gesellschaftlich ernst genommen und nicht vorschnell als wenig zielführend abgetan werden.

Die Veränderungen, die mit Krisen einhergehen, zwingen uns gesamtgesellschaftlich wie auch individuell dazu, auf vielen Ebenen Neues zu lernen, anpassungsfähig und flexibel zu sein, aber Ver­änderungen auch aktiv mitzugestalten.

Junge Menschen haben diesen neuen „modus operandi“ bereits stark verinnerlicht. Sie sind in dieser Hinsicht vielleicht bereits resilienter und handlungsfähiger als andere Teile der Bevölke­rung. Junge Menschen sollten neben verzweckten Räumen wie Schule oder Ausbildung, mehr gestaltbare Freiräume erhalten, um diese Stärken zur Geltung zu bringen. Formelle und non-formale Bildungsinstitutionen müssen junge Menschen darin fördern, Zukunftsvisionen zu denken und Handlungsebenen für gesellschaftliche Verände­rungen zu kennen. Schließlich sollten politische Einflussmöglichkeiten junger Menschen angesichts des demografischen Wandels und der großen Umbrüche, die junge Menschen in Zukunft zu gestalten haben, ausgebaut werden. Das fängt bei der Umsetzung neuer Beteiligungsformen an und hört beim Wahlrecht auf. Die Entwicklung und Zukunft einer Gesellschaft hängen im Wesent­lichen davon ab, dass junge Menschen die Erfah­rung machen, dass Gesellschaft und Demokratie veränderbar sind und es sich lohnt, ihre Ideen für ihre Gestaltung einzubringen.