Perspektiefe 61, Dezember 2023

Mit Geschichten Hoffnung schöpfen

BEISPIEL: Wer ist nicht auf der Suche nach Glück, nach Liebe? Wer hat nicht etwa Angst vor dem Tod? Wie können wir lernen, Angst, Hoffnungslosigkeit und Negativität zu überwinden, positiv zu denken? Und wie steht es mit unserem Mut, den Herausforderungen des Lebens zu begegnen? In der heutigen unruhigen und schnelllebigen Zeit der vielen Möglichkeiten ist es mehr denn je wichtig für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, sich immer wieder auf die zeitlosen Themen der Menschheit, auf das Wesentliche, zu besinnen.

von: Annette Hartmann und Odile Néri-Kaiser, professionelle Erzählerinnen


Ein Wegweiser dazu sind Geschichten. Gute Geschichten haben schon seit Jahrtau­senden, bemerkenswerterweise weltweit, Weisheit, Mut, Ethik und aufbauendes Denken in die Welt gebracht. Überall gab es Botschaf­ter*innen, Erzähler*innen, die die Herzen der Menschen mit Geschichten berührten.

So haben die Geschichten aus den Erzähl­traditionen der Kulturen, Parabeln, Mythen und Märchen eine Kraft, die aus dem kollektiven Erfahrungsschatz kommt und die Menschen tatsächlich verbindet. Sie berühren uns, regen zum Nachdenken und zum Mitfühlen an, beflügeln unsere Träume und lösen unsere Zungen.

Ihr kostbares Geheimnis ist, dass sie voller Bilder sind, die sich gut in der inneren Vorstellung der Zuhörer*innen verankern – und damit nachhaltige Wirkung haben. Diese Bilder, über das Ohr in uns eingeladen, leben in uns als unsere eigene Bilderwelt, die wir wahrnehmen, verändern oder verwandeln können.

Odile Néri-Kaiser, professionelle Erzählerin (Foto: Sabine Schreiber)

Von Mund zum Ohr weitererzählt vermitteln diese Geschichten Grundlagen für den Zusam­menhalt einer Kulturgemeinschaft. Die Märchen geben Orientierungen und Hilfestellungen, sind identitäts- und gemeinschaftsstiftend, lösungsorientiert – also Hoffnungsbringer.
Die Geschichte von dem kleinen Kolibri, dem kleinsten aller Vögel, der den Mut hat, sich dem brennenden Wald mit seinen Wassertropfen entgegenzustellen: „Ich tue, was ich kann“, ist inzwischen weltweit verbreitet. Damit regt er die anderen Tiere an, doch mitzumachen. Eine Geschichte, die jede(n) bewegt, das zu tun, was sie/er kann, auch wenn sie/er scheinbar klein und schwach ist.
Auch die Geschichten der mutigen Jugend­lichen, die sich dem Gebot der Eltern widersetzen und einen gefährlichen und abenteuerlichen Weg nehmen müssen, Vertrauen schöpfen und in den schwierigsten Situationen doch Hilfe bekommen, weil sie etwas Gutes wollen, kommen sehr gut an.

Die Diener, die den Mut haben, den Befehl des Königs, den in Ungnade gefallenen Sohn zu töten, nicht auszuführen, sind mutige Menschen! Auch die listigen Ideen der scheinbar dummen Men­schen fordern dazu auf, sich über Vorurteile bestimmter Gruppen Gedanken zu machen, damit solche Vorurteile abgebaut werden können.

Und was erzählt uns die Natur? Was gibt sie uns? Wir haben uns entfernt von ihr und glauben nicht mehr an ihre Kräfte.

Kann man mit dem Feuer reden? Warum? Oder mit einem Baum? Hat er Antworten, Bot­schaf­­ten, kann er helfen? In allen Ursprungs­kul­turen beispielsweise sind Elemente und Pflanzen Lebe­we­sen, mit denen der Mensch spricht und von denen er lernen kann, die er mit Respekt behandelt!

Genau das aber gilt es hier wieder und neu zu entdecken und zu erfahren! Geschichten von Luft, Erde, Feuer, Wasser, Bäumen, Blumen, Tieren sind heute notwendig, wieder mitgeteilt zu werden. Sie erwecken in uns die eingeschlafenen Naturkräfte. Sie führen uns zu den Gesetzmäßig­keiten und Zusammenhängen des Lebens, eigentlich zum Wesentlichen: dass die Erde ein Planet voller Wunder und voller Leben auf allen Ebenen ist, dass wir Teil davon sind und dass wir uns wie der kleine Kolibri miteinander dafür einsetzen, und dabei Freude haben!