Perspektiefe 61, Dezember 2023

Die Alltagstheologie der Jugendlichen ernst nehmen. Zuhören als Zutat zum Zukunftsmut

THEOLOGISCHE BETRACHTUNG: Die Frage nach den Zukunftsbildern junger Menschen ist zunächst nicht notwendig eine religiöse Fragestellung, insofern sie nicht unterstellen kann, dass jedes Zukunft­sbild religiösen Ursprungs ist. Junge Menschen und Teenager zeichnen ihr Bild von sich aus einer ganzen Palette an Farben. Im Ev. Stadtjugendpfarramt Mainz begegnen sich Jugendliche mit unterschiedlich hoher Bereitschaft, sich religiösen Fragen oder existenzieller Reflexion (die nach Paul Tillich Theologie ist) zu stellen1. Existenzielle Reflexion ist wichtig, da die Frage nach Hoffnung und Resignation die Frage nach dem eigenen Deuten von Erlebnissen in Erfahrungen ist.

von: Stadtjugendpfarrer Matthias Braun, Stadtjugendpfarramt Mainz


Paul Tillich (Ev. Theologe, geb. 1886, gest. 1965) hat nun vor kurzer Zeit eine praktisch-theologische Unterstützung erhalten. Und zwar in Gestalt der „Alltagstheologie“.2 Diese subjektorientierte Theologie geht davon aus, dass junge Menschen selbst Theologie treiben, theologische Wahrheiten festsetzen und so ihr eigenes religiöses Wissen als tragfähig für ihr Leben aktivieren.

Das bedeutet für Pfarrer*innen, Religions­pädagog*innen und Kirchenmusiker*innen ihre eigene Verkündigungshaltung zu ändern: vom An­bieten zum Zuhören. Gleichzeitig erfordert diese Subjektorientierung, sich im eigenen Diskurs­universum immer gut auszukennen, um mit einem jungen Menschen vom Gehörten aus weiterzudenken, weiterzugehen, weiterzuhelfen.

Die Prozesstheologie3 (entstanden in den späten 1970er-Jahren) bietet ein großes Potenzial an An­knüpfungspunkten. Sie geht davon aus, dass unsere Welt voller Beziehungen ist, die sich stetig ändern. Gleichzeitig betont sie den metaphori­schen Charakter religiöser Sprache. Damit stellt sie die denkende Person auf die Grenze von Gegenwart und Zukunft in ihrer Verantwortung, zu handeln, zu denken und von Gott zu sprechen. Der einzelne Mensch steht dabei immer im Ver­hältnis zu einer unüberschaubaren Vielfalt anderer Lebensvollzüge. Diese Vielfalt denkt die Prozess­theologie als Geschenk, aus dem die Theologie (die Rede von Gott) wächst: eine Pflanze im Bo­den der Beziehungen und Verbindungen4.

Am Knotenpunkt der Beziehungen, den ein junger Mensch täglich mehrfach erreichen kann, ereignet sich Alltagstheologie. Welche inneren Bilder, Geschichten und Glaubensüberzeugungen habe ich schon bei mir, um der Zukunft zu be­gegnen? Glaube erweist sich damit nicht als einmalig in der eigenen Biografie gewählte Lebens­haltung, sondern als dynamischer Prozess im Menschen zwischen Hoffnung und Resignation mit der Chance zu beidem.

Diese erfolgende oder unterbleibende Akti­vierung christlicher Hoffnungstraditionen für das eigene Leben kann gut beschrieben werden mit dem lateinischen Wort fiducia, zu Deutsch: Ver­trauen. Der fiduzielle Charakter von Lebensmut und Selbstwirksamkeit muss dabei – das sei gesagt – nicht notwendigerweise religiöse Kompo­nenten besitzen, mithin an eine (eigene) Gottes­vorstellung rückgebunden sein5. Es ist aber, legt man einen schöpfungstheologischen Gedanken zugrunde (nimmt man also an, dass ein junger Mensch sich als bejahtes Geschöpf Gottes versteht), gut zu sagen, dass der Wesenskern der Schöpfung Liebe ist6, der nicht immer sichtbar wird, aber doch vertrauen lässt, dass Gott es gut mit mir meint (Gen 50,20).

Aufgabe der Theologie ist es in diesem Sinne vor allem, jungen Menschen die Möglichkeit einzu­räumen, diese Klärung selbstwirksam anzugehen. Das bedeutet, das Priestertum aller Ge­tauften für kirchliche Äußerungen (auch) so zu verstehen, dass der religionspädagogische An­spruch besteht, vergangene christliche Lebens­äußerungen auf ihre Aktivierbarkeit hin zu überprüfen und in Erinnerung zu rufen. Nur ein voller Rucksack an aktivierbaren Bildern kann für die Gestaltung der eigenen Zukunftsbilder hilfreich sein7. Das heißt nicht, dass professionell religiöse Menschen immer und zu jeder Zeit einen Tradi­tionsabgleich vornehmen sollten. Aber es wird Teil einer Haltung gegenüber jungen Menschen.

„Diese erfolgende oder unterbleibende Akti­vie­rung christlicher Hoff­nungstraditionen für das eigene Leben kann gut beschrieben wer­den mit dem lateini­schen Wort fiducia, zu Deutsch: Ver­trauen.“

Matthias Braun

(Foto: PicturePeople)

Zu ihr gehört eine Bereitschaft zur gegenseitigen Anregung mit und von Alltagstheolog*innen8. Dabei besteht immer die Gefahr, mit der Suche nach der theologisch angemesseneren Formu­lie­rung, die Aktivierbarkeit der eigenen Bilder zu stop­pen. Eine Glaubensaussage wie „Gott ist mein Freund“ (23-jährige Frau) wird durch die Über­set­zung „Jesus Christus als menschgewordener Gott sichert die Nahbarkeit Gottes als Va­ter“ nicht religiös tragfähiger gemacht. Statt­des­sen heißt es, sich auf die Suche nach Freund­schaft in Theologie und Kirche zu machen. Theo­lo­gische Sprache ohne Anregung kann erstarren und droht dann Lebensereignissen – sei es Freu­de, sei es Leid – nicht zu entsprechen9. In der Begleitung der jungen Menschen muss theologische Sprache die Sprache der Begleiteten werden. Und zwar in und für die Ereignisse, die reflektiert werden.

Das bedeutet jedoch, wie oben gesagt, gerade keinen Ausverkauf biblischer und theologi­scher Sprache. Sondern das behutsame In-Kom­mu­nikation-Bringen schon einmal gedachter christ­licher Bilder mit dem Neugehörten. Ich nenne diese Bilder: den Fundus der Hoffnung. Die Akti­vierung christlicher Wahrheiten für das eigene Leben liegt in den Händen der jungen Menschen (wenn auch geschenkt durch den Heiligen Geist).

Die Rede vom Geist macht deutlich: Die Kon­flikt­linie, die wir auf theologischer Ebene verhandeln, ist die nach dem verborgenen und offenbaren Gott (Jes 45,15). Und es scheint angebracht, die Herausforderung, auf einen verborgenen Gott zu vertrauen, im Kontakt mit jungen Menschen ernst zu nehmen. Und das, was schon mal sichtbar war, entsprechend zu formen:

Im Hoffnungsfundus der Theologie finden sich zwei sehr plakative Varianten des gekreu­zigten Christus entwickelt: den ruhig im Triumph lächelnden Jesus der Romanik, der alles Leiden überwunden hat, und den schmerzverzerrten, pestbeuligen Jesus, der das Leiden der Welt mit­er­trägt. Vielleicht wäre es Zeit für einen Jesus am Kreuz mit fragendem Gesicht, der den Zweifeln und (post-)säkularen Notwendigkeiten, die eigene Biografie bauen zu müssen, Raum gibt.

Nur, wenn die Theologie die Lebensdeutungs­hoheit auf der Grenze zwischen Gegenwart und Zukunft in die Hände der heranwachsenden Ge­neration gibt, kann diese überhaupt vor Gott reflek­tieren, zwischen Hoffnung und Resignation landen und aktivieren, was sie Tragfähiges über den christ­lichen Gott gehört hat. Nur dann kann Selbst­wirk­samkeit auch von Glaube gespeist sein. Nur dann kann der Heilige Geist Vertrauen schenken.


1    Tillich, Paul, Systematische Theologie I/II, Berlin – New York, 8 1987.
2    Müller, Sabrina, Gelebte Theologie, Theologische Studien 14, Zürich 2019, insb. S. 32–51.
3    Keller, Cathrine, Über das Geheimnis, Freiburg 2013.
4    Vgl. Moltmann, Jürgen, Theologie der Hoffnung, Gütersloh 142005, der die Offenheit für Gegenwart und Zukunft als Zeichen der Gemeinde beschreibt.
5    Wendel, Saskia, Die Rationalität des Glaubens, in: Gott und Sinn, Baden-Baden 2016, S. 37–52.
6    Härle, Wilfried, Dogmatik, Berlin – New York, 32007, S. 409–455.
7    Lauster, Jörg, Die Verzauberung der Welt, München, 62021.
8    Vgl. Schleiermacher, Friedrich, Über die Religion, Vierte Rede, Stuttgart 2007, S. 117–156.
9    Luther, Henning, 1998, Die Lügen der Tröster, in: Praktische Theologie 33/Bd. 3, S. 163–176.