Perspektiefe 62, April 2024

Eine Europäische Union, die schützt

MEINUNG: Die schnelle Abfolge von Krisen und anstehende Heraus­forderungen setzen die EU unter Stress. Doch die insti­tutionelle Einzigartigkeit des Staatenverbunds könnte sehr hilfreich sein, um die Bürgerinnen und Bürger vor den Zumutungen der Globalisierung zu schützen. Dafür benötigt die EU allerdings einen Spurwechsel weg von der Förderung des Marktes, hin zur Entwicklung einer sozialen Gemeinschaft.

von: Dr. Björn Hacker, Professor für europäische Wirtschaftspolitik an der Hochschule für Wirtschaft und Technik (HTW) Berlin


Friedensbewahrung in einer stark veränder­ten Sicherheitslage, strategische Souverä­nität in einer multipolaren Welt, Erweiterung und zugleich innere Reform in geopolitischer In­sta­­bilität, Bewältigung von Finanz- und Wirt­schafts­krisen, einer Pandemie und des Brexits. Zudem die Hausaufgaben in der Migrationspolitik, im klimaneutralen Umbau der Volkswirtschaften, in der Steuerung der Digitalisierung der Arbeitswelt. Und nicht zuletzt die Frage nach dem Umgang mit den Nationalpopulisten, die der EU Versagen vorwerfen, ihren Rückbau betreiben und die Rechtsstaat­lichkeit aushebeln wollen. – Die EU ist unter Stress und nicht zu beneiden. Neben immer neuen Kri­sen – einige sprechen vom Zeitalter der Polykrise – treten andauernde Risiken und Veränderungen auf.

Verlust der Europa-Euphorie

Nicht nur die frühere Europa-Euphorie ist den Men­schen so abhandengekommen, sondern auch das gemeinsame Verständnis politischer Gestaltung. Wenn zum Beispiel der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán innerhalb der EU sein ganz eigenes Rechtsverständnis durchsetzt und jede Einigung in der Migrationspolitik verhindert. Wenn die vormaligen Bundesregierungen die Warnungen ihrer EU-Partner vor der Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen lange Zeit ignoriert haben. Oder wenn beim Auftreten eines gefährlichen Virus viele Mitgliedsstaaten als erste Reak­tion einseitig ihre Grenzen schließen und damit den Binnenmarkt blockieren.

Wir zögern allzu oft, die EU als einzigartiges institutionelles Gebilde zu loben. Dabei gibt es viele Menschen in anderen Teilen der Welt, die uns um sie beneiden. Seit über 70 Jahren verfügen wir unter anderen Institutionen über ein gemeinsames Europäisches Parlament, üben uns in der gemeinsamen Ausrichtung und Steuerung von Themen, die alle Mitgliedsstaaten und ihre Gesellschaften betreffen. Wir kennen heute eine Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen und Verbände, die transnational agieren und ihre Interessen in das politische Mehrebenensystem in Brüssel und Straßburg so­wie in den Hauptstädten der Mitgliedsstaaten einspeisen. Sicher, die EU ist nicht perfekt; sie ist kein eigenständiger Staat und daher nur bedingt mit den Systemen der Mitgliedsstaaten vergleichbar. Und doch könnten wir dieses einzigartige Ge­bilde der EU besser nutzen, um Krisen und He­raus­forderungen des 21. Jahrhunderts besser und schneller in den Griff zu bekommen.

„Wenn ein einzelnes Land in der Globali­­sierung die eigenen Ent­schei­dungs­kompe­ten­zen schwinden sieht, wird es nur mehr Souveränität zurück­erlangen, indem es sich mit anderen zusam­mentut.“
Prof. Dr. Björn Hacker

Foto: Elke Schöps

Nur gemeinsam sind wir stark

Denn in der globalisierten Welt, in der wir wirtschaftlich und kommunikativ zusammenwachsen, teilen wir am Ende auch die Risiken. Und die Risi­ken werden größer – und international. Und daher können sie auch nur auf einer supranationalen Ebene nachhaltig angegangen werden. Wenn ein einzelnes Land in der Globalisierung die eigenen Entscheidungskompetenzen schwinden sieht, wird es nur mehr Souveränität zurückerlangen, indem es sich mit anderen zusammentut. Grenz­überschreitende Megathemen, die mehrere Staa­ten gleichzeitig betreffen, können nur in Koope­ra­tion nachhaltig bearbeitet werden. Dagegen sind die Vorstellungen eines Rückzugs von der Welt, einer Wiedererlangung von Handlungskompetenz durch Betonung des Nationalen, nichts anderes als ein Vorgaukeln von Autonomie. Irgendwann fliegt auf, dass das betreffende Land kaum noch souverän ist, weil es allein schlicht nicht imstande ist, den Risiken und Herausforderungen adäquat zu begegnen.

Wirft man einen Blick in das Eurobarometer, also die regelmäßigen Umfragen unter Bürgerin­nen und Bürgern der EU, dann wird schnell klar, dass die Bevölkerung sehr wohl versteht, dass viele der aktuellen Herausforderungen nicht von den Mitgliedsstaaten allein gelöst werden können, sondern auf europäischer Ebene angegangen werden müssen. Das zeigt, die Bürgerinnen und Bürger sind in der Frage nach der Zukunft Euro­pas schon einen Schritt weiter als viele Politike­rin­nen und Politiker. Sie wissen, dass wir die The­men Klimawandel, Umweltschutz, Gesundheitsschutz, Migration, Energieversorgung, Finanzmarkt­regu­lie­rung, Währungsstabilität, aber auch Wirt­schafts­krisen sowie – seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine mit neuer Dringlichkeit – die Außen- und Sicherheitspolitik nicht mehr im nationalen Alleingang bearbeiten können.

Der Konflikt zwischen Markt und Politik

Ein Grund für den Mangel an Zutrauen in die EU, für das Verweigern des Denkens in europäischen Handlungskapazitäten, ist eine zu wenig thematisierte Konfliktlinie. Diese verläuft zwischen dem Markt und der Politik, die ihn gestalten, regulieren und einhegen soll. Mit dem Binnenmarkt und der Wirtschafts- und Währungsunion hat die EU zwei große Projekte realisiert. Beide haben zahlreiche Anpassungen notwendig gemacht, und zwar in der Art und Weise, wie unsere Volkswirtschaften, wie unsere Gesellschaften funktionieren. Wir ha­ben uns mit ihnen auf einen Weg der ökonomi­schen Integrationsvertiefung begeben, auf dem vor allem das Marktgeschehen erweitert, der Markt vertieft wurde. Doch während Zölle und Grenzkontrollen schnell beseitigt werden konnten, fällt es den Mit­gliedsstaaten schwer, neue gemeinsame Politiken, Kooperationsmechanismen und Institutionen einzurichten. Diese wären aber nötig, um den großen gemeinsamen Markt im Interesse der Menschen und nicht nur der Unternehmen zu gestalten, um ihn dort zu korrigieren, wo er irrt.

„Eine EU, die ihre Bürgerinnen und Bürger schützt, würde euro­päische Stan­dards setzen und bewahren. Sie würde soziale Ungleich­gewichte ebenso bekämpfen wie Haus­halts­defi­zite.“

Der europäische Wettbewerb der Unterneh­men bringt viele Vorteile, doch der Wettbewerb der Sozial- und Steuersysteme, der Lohnkosten sowie der öffentlichen Dienstleistungen und Infra­struktur geht zulasten der Bürgerinnen und Bür­ger. Denn dieser Wettbewerb der Systeme kennt nur eine Richtung: jene der für den Markt gerings­ten Kosten. Dieser Wettbewerb um möglichst geringe Ausgaben für öffentliche Investitionen, für niedrige Sozialkosten und zulasten von Haushalts­einkommen und Staatseinnahmen ruiniert die tradierten Errungenschaften der sozialen Marktwirt­­schaft und verhindert zugleich den Aufbau eines schützenden europäischen Sozialmodells. Wir wissen, dass in vielen EU-Mitgliedsstaaten die Spal­tung der Gesellschaften gewachsen ist. Wir wissen, dass es Unsicherheiten und Abstiegs­ängste gibt, bis tief in die Mittelschicht hinein. Und wir wissen, dass mangelnde staatliche Inves­titio­nen und ein partieller Ausverkauf der öffentlichen Daseinsvorsorge uns heute Probleme bereiten, auf dem Wohnungsmarkt zum Beispiel, aber auch im Bildungssystem und in der Infrastruktur.

Europäische Sozialstandards setzen

Wir benötigen eine EU, die uns nicht der Globa­lisierung und den Krisen unserer Zeit ausliefert, sondern uns vor ihnen schützt. Wir benötigen die EU als Schutzschild vor den unschönen Seiten der Globalisierung. Eine EU, die ihre Bürgerinnen und Bürger schützt, würde europäische Stan­dards setzen und bewahren. Sie würde soziale Ungleich­gewichte ebenso bekämpfen wie Haus­halts­defi­zite. Sie würde die grüne und digitale Transfor­mation der Wirtschaft sozial abfedern. Sie würde mit sozialen Schwellen und Zielwerten Grenzen der Vermarktlichung einziehen. Und sie würde Wirtschaftskrisen auch mit sozialen Kon­junk­tur­programmen begegnen. Dafür benötigen wir nicht weniger Globalisierung oder weniger europäische Integration, sondern einen Spurwechsel – von der Marktintegration hin zur politischen Gestaltung einer europäischen Sozialunion.