Perspektiefe 62, April 2024

Am Rande Europas und doch mittendrin: Pastor in Irland

THEOLOGISCHE BETRACHTUNG: Rauhe Landschaft, Meer und Kirchenruinen, Pubs und Whiskey, Musik und Katholizismus, enge Straßen und sehr viel Armut: Das hatte ich von Irland gehört, war aber vor der Entsendung als Pastor nie dort gewesen. Unbefangen zogen meine Frau und ich im Sommer 2015 für sechs Jahre nach Dublin, im No­vem­ber 2021 in der bereits begonnenen Verlängerung ging es wieder nach Deutschland, da ich zum Propst für Starkenburg gewählt wurde.

von: Pfarrer Stephan Arras, Propst der Ev. Propstei Starkenburg


Die evangelisch-lutherische Kirche in Irland ist eine eigenständige Kirche, aber sie hat nur einen Angestellten, den Pastor bzw. die Pastorin, entsandt von der EKD. Das Gemeinde­gebiet umfasst die gesamte irische Insel. Standort mit Kirche, Pfarrhaus und Gemeindehaus ist Dublin. In (damals acht) weiteren Orten, inklusive Belfast, sind zwischen drei- und zehnmal im Jahr Gottesdienste zu halten. Zu meiner Zeit gab es 134 Beitragszahler, das bedeutet etwa 750 Mit­glieder. Die meisten haben einen deutschsprachigen Hintergrund, aber es sind auch Menschen aus Skandinavien, Irland, UK, Osteuropa oder gar Indien dabei. So gibt es Angebote in Deutsch, Englisch und bi-lingual.

Ich möchte (1) ein paar Beobachtungen aus „meiner“ Kirche schildern, sodann den Katholizis­mus näher anschauen (2), gehe (3) auf Irland und die EU ein, (4) auf den Brexit und schließlich (5) auf das Reformationsjubiläum 2017. Mein Augenmerk bei diesen kleinen Impulsen liegt auf der Frage nach einer Zukunft der Kirchen und ihrer Rolle im Blick auf ein gutes Zusammenleben in Europa.

(1) Erfahrungen in der Lutherischen Kirche in Irland:

1. Um Mitglied zu werden, muss man laut Satzung getauft sein, den Beitritt unterschreiben und einen Beitrag zahlen. Manche hatten jedoch nie unterschrieben, zahlten aber. Andere zahlten nur selten. Und wieder andere waren nicht getauft, fanden aber ein Stück Heimat in der Gemeinschaft. Das heißt, das scharfe Drinnen oder Draußen wie bei der Kirchensteuer gibt es nicht. Es ist eher Kirche auf Zeit: Wer da ist, ist „Kirche“. Wer eine Weile nicht zahlt, ist nicht gleich „draußen“. Die selbst festzulegende Beitragshöhe trägt dazu bei, dass man sich mit Kirche und ihrem Wert intensiv beschäftigt. Und dennoch ist der Haushalt stabil. Ein Konzept, das in unsere moderne, mobile Zeit passt.

2. Auf jeden Gottesdienst folgt ein Kirchkaffee oder eine Mahlzeit. Das bedeutet eine gute Balance zwischen Hören auf Gottes Wort und Gemein­schaft unterschiedlichster Menschen und erinnert an Jesu Mahlgemeinschaften. Für viele war dies ein Grund, zu kommen. 

3. Verschiedenheit verbindet: Beispielsweise im Irish Council of Churches oder dem Dublin City Interfaith Forum bin ich Menschen aus der ganzen Welt begegnet. Eine Lerngemeinschaft in einer zunehmend bunter werdenden Gesellschaft, die sich immer wieder mit der Gesellschaft vernetzt hat, etwa durch Informationsstände an einer Uni­versität zu verschiedenen Religionen, um zu ei­nem guten Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft beizutragen.


Statue des Heiligen Patrick am Anfang des Fußweges zum Gipfel des Croagh Patrick, County Mayo, Irland (Foto: Marcin, AdobeStock)


(2) Irland und der Katholizismus

Beklemmend ist es, wie schnell das „katholische Ir­land“ zu Ende geht: Noch vor wenigen Jahren waren 93 Prozent der Iren katholisch. Heute kreuzen immer mehr Menschen „no religion“ bei den regelmäßigen Census-Umfragen an, 2022 etwa 21 Prozent, dazu kommen die, die den Glauben nicht mehr praktizieren. Einer der vielen Gründe dafür dürfte sein, dass die Kirche bei der Grün­dung der Irischen Republik vor einhundert Jahren für den Staat das gesamte Bildungs- und Ge­sundheits­wesen übernommen hatte. Die Folge: Gleichzeitig Machtzuwachs und spirituelle Erstar­rung. Die Menschen heute möchten Kirche und Politik getrennt sehen und nicht bevormundet werden. Das zeigte sich eindrucksvoll bei den Volksabstim­mungen zu gleichgeschlechtlicher Ehe (2015) und Abtreibung (2019), bei denen die überwältigende Mehrheit der Menschen für die Liberalisierung stimmte.  

(3) Irland und die EU

Das Erste, was mir bei den Reisen durch das Land aufgefallen ist, sind die nagelneuen Auto­bahnen, manche wurden erst während unserer Zeit gebaut. Sie sind auf den Beitritt Irlands zur Europäischen Union im Jahr 1973 zurückzuführen. Straßenbau und Bildung waren die Bereiche, die zuerst gefördert wurden. Die Universitäten erlebten einen Aufschwung, das Erasmus-Studien­programm bringt viele internationale Studierende ins Land.

Eine zweite Beobachtung: Viele große Techno­logiekonzerne wie Google, Accenture, Facebook oder Apple haben ihren europäischen Firmensitz in Irland. Das liegt daran, dass die Gewerbesteuer extrem niedrig ist, so niedrig, dass immer wieder Mahnungen aus Brüssel kommen. Doch die Iren sind findig in Kompromissen, und so bleiben die Steuern niedrig, die Firmen im Land und die Grund­lage für den neuen Wohlstand erhalten. Die Iren schätzen die EU sehr und sind stolz darauf, dass ihr Land längst zu den Nettozahlern in der EU gehört. Sogar Migranten wurden lange willkommen geheißen, bedeutete das doch, dass nach Jahrhunderten irischer Emigration auf einmal Menschen freiwillig ins Land ziehen. Mittlerweile hat sich die Stimmung aber leider verändert, immer öfter heißt es: We are full.

„Vielleicht liegt in der Abwesenheit von Macht auch ein Hinweis darauf, wie Kirchen insgesamt in Europa sich einbringen können, friedliches Miteinander zu fördern.“
Pfarrer Stephan Arras

(4) Brexit und Grenzen

Im Jahr 1998 wurde das Good-Friday-Agreement zwischen Nordirland, UK und der Republik Irland geschlossen. Man verständigte sich darauf, die Wiedervereinigung von der Agenda zu nehmen, die paramilitärischen Truppen zu entwaffnen und englische Soldaten abzuziehen. Die gemeinsame Mitgliedschaft in der EU war die Grundlage für diesen Frieden. Der Brexit Ende Januar 2020 stellte das alles wieder infrage. Auf einmal musste eine neue EU-Außengrenze geschaffen werden. Dafür gab es die Optionen, entweder zwischen den beiden Teilen Irlands Grenzkon­trollen einzuführen, was die Gewalt wieder heraufbeschworen hätte, oder zwischen Nordirland und Großbritannien in der Irischen See eine EU-Außengrenze zu ziehen, also mitten durch UK hindurch, wozu es dann auch kam. Grenzkontrollen zwischen Nordirland und Großbritannien finden aber de facto nicht statt. Das ist ein sehr fragiler Friede. Die Kirchen haben die Chance, zur Versöhnung beizutragen, denn sie sind alle strukturell so organisiert, dass sie für die gesamte irische Insel eine Einheit bilden.

(5) Reformationsjubiläum 2017 in Irland

Im Februar 2017 war der EKD-Truck mit „Ge­schich­ten unterwegs“ während seiner Tour durch 19 europäische Länder in Dublin zu Gast. Wir orga­ni­sierten dazu ein viel beachtetes, theologi­sches Symposium im Trinity College Dublin. Außerdem wurde ich eingeladen, beim zentralen irischen Fernsehgottesdienst zu predigen. Das große Echo des Reformationsjubiläums in den irischen Medien ist insofern bemerkenswert, als Irland keine lutherische Tradition kennt. Kleine Kirchen (und Reli­gions­gemeinschaften) werden jedoch als Kataly­sator eines besseren Miteinanders in der irischen Gesellschaft erlebt, vor allem, wenn sie keine formale Macht haben. Vielleicht liegt in der Abwe­sen­heit von Macht auch ein Hinweis darauf, wie Kirchen insgesamt in Europa sich einbringen können, friedliches Miteinander zu fördern: Ohne formale Macht entfalten die Geschichten des Glau­bens ihre Wirkung viel besser, und das Vorleben eines bunten Miteinanders in gegenseitigem Re­spekt überzeugt. Etwa, wenn mitten in Ausein­andersetzungen in Nordirland ein katholischer Priester und ein reformierter Pfarrer in einem Straßencafé für alle sichtbar zusammensitzen und friedlich und angeregt miteinander diskutieren. Solche Momente haben mich berührt.