Perspektiefe 64, Dezember 2024

Zusammenarbeit tut gut! Kirche, Diakonie und Kommunen tragen gemeinsam Verantwortung für die Gesellschaft

INTERVIEW: Gespräch über Gemeinwesenorientierung mit Barbara Akdeniz, Bürgermeisterin und Sozialdezernentin der Stadt Darmstadt, Pfarrer Steffen Held, Dekan des Ev. Dekanats Dreieich-Rodgau, und Wilfried Kehr, Leiter der regionalen Diakonie Westerwald.


Herr Held, Herr Kehr, können Sie uns anhand eines Beispiels zeigen, wie Gemeinwesen­orientierung bei Ihnen vor Ort stattfindet?

Held: Gemeinwesenorientierung geschieht in unserem Dekanat auf verschiedenen Ebenen. Da wir in den Sozialräumen mit anderen gesellschaftlichen Partnern im Austausch und gut vernetzt sind, fallen uns schnell Probleme auf, die wir nur gemeinsam lösen können. Und Kirche hat vor Ort die Fähigkeit, ganz unterschiedliche Menschen zusammenzubringen.
Im Augenblick treibt uns die zunehmende Spaltung der Gesellschaft um. Und dank der För­derung durch das Land Hessen konnten wir die Projektstelle „Glaube gemeinsam gestalten“ einrichten, die sich für Demokratieförderung einsetzt. Die mit der Aufgabe betraute Pädagogin organisierte beispielsweise einen Besuch im Kon­zen­trationslager Buchenwald für junge Menschen unterschiedlichen Glaubens. Durch die intensive Auseinandersetzung mit der Zeit des National­sozialismus wurde anschaulich, wie wertvoll unsere Demokratie heute ist.

„Wir müssen gemein­sam schauen, was in unserem Sozialraum los ist und was wir für die dort lebenden Men­schen benötigen.“
Pfarrer Steffen Held, Dekan des Ev. Dekanats Dreieich-Rodgau

Kehr: Ich möchte unseren „Arbeitskreis Soziales“ in Westerburg vorstellen. Initiiert von der Ev. Er­wachsenenbildung und der Regionalen Diakonie arbeiten heute z. B. Vertreterinnen und Vertreter des Roten Kreuzes, der Parität, des Frauen­zen­trums, der Verbandsgemeinde, aller christlichen Gemeinden, des Ev. Dekanats sowie des Job­centers, der Arbeitsagentur und der Jugend­pflege zusammen, um möglichst viele Menschen aus Westerburg zu erreichen. Am 2. Advents­sonntag beispielsweise organisieren wir gemeinsam einen Weihnachtsmarkt, der sich gezielt an Menschen mit wenig Geld richtet. Alle aus dem Arbeitskreis packen mit an. Der Leiter des Ord­nungsamtes steht an der Spülmaschine, die Be­ginen organisieren die Kinderbetreuung. Es gibt Musik und für das leibliche Wohlergehen wird gesorgt.

Mit welchen kirchlichen Einrichtungen arbeiten Sie, Frau Akdeniz, zusammen?

Akdeniz: Ich arbeite fast täglich mit kirchlichen Einrichtungen zusammen, da wir in Darmstadt Wert auf Subsidiarität legen, sodass viele Auf­gaben von unterschiedlichen Trägern abgedeckt werden. Kirche ist ein Baustein der sozialen Infra­struktur der Stadt. Das fängt bei der Kinderbe­treuung an. Wir haben ein regelmäßiges Träger­treffen und versuchen unsere Strategien abzu­sprechen. Das geht über die Jugendarbeit und die Arbeit mit Geflüchteten bis hin zur Obdachlosenarbeit und Drogen- und Suchthilfe.
Wenn es um Kirchenasyl geht, haben wir zwei sehr mutige und schon lange engagierte evangelische Kir­chengemeinden, die auch trotz des politischen Gegenwindes ihre Arbeit toll machen und nach Möglichkeit von mir unterstützt werden. Denn wir brauchen gerade heute Stabilität und Mensch­lichkeit.

„Wir können uns auf­einander verlassen und arbeiten vertrauensvoll zusammen. Und wir machen dadurch die Stadt gemeinsam zu einem sozialeren Ort.“
Barbara Akdeniz, Bürgermeisterin und Sozialdezernentin der Stadt Darmstadt

Warum sind Kommunen wichtige Ansprech­part­nerinnen für Kirche und Diakonie und umgekehrt, und wie sind Ihre Erfahrungen?

Held: Kirche, Diakonie und Kommunen tragen Ver­antwortung für die Gesellschaft. Das ist der Auf­trag, der uns verbindet. Und ich bin der festen Überzeugung, wenn wir zusammenarbeiten und unsere jeweiligen Kompetenzen einbringen, können wir einfach mehr Gutes für die Menschen in unserem Sozialraum tun. Und da die Kirchenge­meinden vor Ort nah bei den Menschen sind, erreichen sie auch noch andere Milieus. Bei­spiels­weise haben wir in einer Kirchengemeinde das „Café Grenzenlos“. Ehrenamtliche, zum Teil mit eigenen Fluchterfahrungen oder mit Migrations­hintergrund, treffen sich im Café mit Flüchtlingen, um ihre Erfahrungen zu teilen oder ganz konkret im Alltag und bei Behördengängen zu unterstützen. Einfach aus der Haltung heraus, anderen helfen zu wollen.
In meinem Bereich habe ich die Zusammen­arbeit mit den Kommunen immer als vertrauensvoll erlebt, auch wenn wir manchmal nicht einer Meinung sind. Aber der Wille, einen gemeinsamen Dienst für die Menschen zu tun, vereint uns und bis jetzt kamen wir immer zu guten Lösungen.

Akdeniz: In erster Linie geht es um eine zuverlässige Finanzierung der Einrichtungen. Da können sich die Träger sehr gut auf uns verlassen, auch wenn das Budget kleiner wird. Aber es geht auch um das Verständnis da­rüber, wie wir unsere Stadt gestalten wollen. Wer gehört dazu? Wer darf mitten in der Stadt einen Platz haben? Darüber gibt es politisch sehr unterschiedliche Meinungen. Manche beispielsweise sagen „Menschen mit Alkohol- oder Sucht­proble­men und die entsprechenden Beratungs­einrich­tungen haben mitten in der Stadt nichts zu suchen“. Aus meiner Sicht aber muss das eine Ge­sellschaft ertragen und auch sehen, dass es solche Schicksale und Probleme gibt. Und da weiß ich die Liga der freien Wohlfahrtspflege insgesamt und mit ihr die regionale Diakonie an meiner Seite. Für diese Unterstützung bin ich sehr dankbar und freue mich, dass Kirche und Dia­konie an dieser Stelle Haltung zeigen. Wir können uns aufeinander verlassen und arbeiten vertrauensvoll zusammen. Und wir machen dadurch die Stadt gemeinsam zu einem sozialeren Ort.

Kehr: Ich möchte gerne das Thema Subsidiaritäts­prinzip aufgreifen, das Frau Akdeniz schon angesprochen hat. Nicht alle Kommunen haben die Träger der freien Wohlfahrtspflege im Blick und sehen die hohe fachliche Kompetenz, die wir in vielen Bereichen einbringen. Beispielsweise hat das Land Rheinland-Pfalz vor einigen Jahren ein neues Kitagesetz beschlossen, das auch Kita­sozialarbeit ermöglicht. Unsere Kreisverwaltung ging ganz selbstverständlich davon aus, dass das Jugendamt diese Aufgabe übernehmen wird. Da die Diakonie und andere Träger auf diesem Gebiet aber bereits Erfahrungen, Kompetenzen, Kon­zepte und entsprechende Beratungsstellen vorzuweisen haben, entschlossen wir uns, gemeinsam Lobbyarbeit zu machen und uns für die Kita­sozial­arbeit anzubieten. Das war aber kein Selbstläufer. Mittlerweile betreuen wir 30 Prozent der Kitas mit der Kitasozialarbeit. Es wäre wünschenswert, wenn uns Kommunen und Kreise von Anfang an mit einbeziehen.

„Mittlerweile betreuen wir 30 Prozent der Kitas mit der Kita­sozial­arbeit. Es wäre wünschens­wert, wenn uns Kommunen und Kreise von Anfang an mit einbeziehen.“
Wilfried Kehr, Leiter der regionalen Diakonie Westerwald

Welche Themen sollten aus Ihrer Sicht noch gemeinsam beraten werden, und wie gelingt die Zusammenarbeit?

Akdeniz: Kirchliche Prozesse wie die Neustruk­turierung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau in Nachbarschaftsräume werden Auswirkungen auf die Kommunen haben. Bis auf eine Kirchenge­meinde, aber auch eher zufällig, kam noch niemand auf mich zu, um beispielsweise über freiwerdende Räume zu sprechen. Im Fall der an­gesprochenen Kirchengemeinde hätte ich vielleicht auch eine passende Idee. Es ist für mich also durchaus relevant zu erfahren, wo Räum­lichkeiten aufgegeben oder anders genutzt werden sollen. Da wünsche ich mir früher einbezogen zu werden, nicht erst, wenn die Entscheidungen gefallen sind. Aber ich werde die Initiative ergreifen und den Dekan anrufen, er ist sicher sehr offen für einen Austausch zum Thema.

Held: Grundsätzlich hilft es zu reden, wie in so vielen Bereichen des Lebens. Bei uns suchte die Kommune dringend ein neues Zuhause für ihr Familienzentrum, da sie in der bisherigen Liegen­schaft mehr Platz für die Schulbetreuung benö­tigte. Nach diversen Gesprächen fand man dann eine gute und sinnvolle Lösung. In einem nahe­liegenden Gemeindehaus gab es eine ausreichend große Anzahl an Räumen, sodass jetzt das städtische Familienzentrum und das kirchliche Begeg­nungszentrum unter dem Dach eines kirchlichen Hauses in den Sozialraum wirken können. Das ist aus meiner Sicht ein gutes Beispiel, wie Zu­sam­menarbeit gelingen kann. Wir müssen gemeinsam schauen, was in unserem Sozialraum los ist und was wir für die dort lebenden Men­schen benötigen.

Kehr: Daneben braucht es auch klare Absprachen und eine Kommunikation auf Augenhöhe. Dadurch entstehen weniger Reibungsverluste. Auch halte ich es für zielführend, dass man sich regelmäßig austauscht, auch wenn gerade keine Entschei­dungen anstehen. Das schafft Vertrauen. Und manchmal braucht man auch Geduld.

Akdeniz: Ich habe den Eindruck, dass wir alle momentan überwiegend Krisenmanagement betreiben. Gemeinsam sollten wir uns darauf besinnen, was gut läuft. Wir haben eine gute Infrastruktur, viele Menschen, die ihren Beitrag dazu leisten, so viele Ehrenamtliche, die sich sozial engagieren. Das sollten wir nicht als selbstverständlich betrachten und viel mehr gemeinsam in die Öf­fentlichkeit bringen.

Liebe Frau Akdeniz, liebe Herren Held und Kehr, vielen Dank für das Gespräch.