Perspektiefe 64, Dezember 2024

Gemeinwesenorientierung, „Kirche mittendrin“: Was ist das und wie geht das?

HINTERGRUND: Die Ergebnisse der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung von 2023 zeigen: Kirche ist nur zukunftsfähig, wenn sie neben der mitgliederorientierten Gestaltung kirchlichen Lebens auch eine starke gesellschaftliche Stimme bleibt, die mit einer christlichen Wertebasis auf Bundesebene und konkret vor Ort als „zivilgesellschaftliche Akteurin“ aktiv ist (vgl. kmu.ekd.de).

Ganz in diesem Sinne will die EKHN ihr Handeln im aktuellen Entwicklungsprozess ekhn2030 nicht nur mitglieder- sondern auch gemeinwesenorientiert ausrichten. Aber was bedeuten „Kirche als zivil­gesellschaftliche Ak­teu­rin“ und „Gemeinwesenorientierung“ konkret? Und wie kann dies in den neu gegründeten Nachbar­schaftsräumen der EKHN gelebt werden?1

von: Susanne Talmon und Stefan Heinig, Referat Stadt- und Landentwicklung, ZGV, susanne.talmon@ekhn.de und stefan.heinig@ekhn.de


Ausgangslage

Die gesellschaftlichen Herausforderungen sind groß: Klimawandel, zunehmender Popu­lismus und politische Unzufriedenheit, eine größer werdende Kluft zwischen armen und reichen Menschen, anhaltende Migration, Fach­kräftemangel – um nur ein paar zu nennen. Vieles wird in den Kommunen, also unserem unmittelbaren Lebensraum in den Dörfern und Städten, ganz konkret greifbar – sei es als Pro­blematik: Mangel an bezahlbarem Wohnraum, überhitzte Innenstädte, überlastete Kitas und Schu­l­en etc., aber auch als Lösungsansatz: z. B. Nach­bar­schaftshilfen, Begegnungscafés und Carsharing-Angebote. Dabei zeigt sich: Ein Akteur alleine kann oft wenig ausrichten. Es braucht nicht nur das Engagement des Staates, sondern ein gutes Zu­sammenwirken vieler Aktiver vor Ort. Unter­neh­men, öffentliche Institutionen, Verbände, Vereine und Initiativen sind mit ihren Kompetenzen, Res­sourcen und Netzwerken genauso gefragt – und auch die Kirchen.

Im kirchlichen Kontext meint Sozialraum- oder Gemeinwesenorientierung demnach, dass Kirche auch „nach draußen“ schaut, ins jeweilige Dorf, Quartier oder den Stadtteil: Welche Herausfor­de­rungen gibt es vor Ort? Wie können die Menschen im Viertel ihr Leben selbstbestimmt gestalten? Wie kann der gemeinsame Lebensraum gut und le­bens­wert entwickelt werden? Und: Was kann Kirche da­zu beitragen? Gemeinsam mit Kommune und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren wie Dia­konie, Vereinen und Initiativen gestaltet Kirche das lokale Umfeld positiv mit. Sie ist „Kirche mittendrin“.

„Eine gemeinwesen­orientierte Kirche ist offen und neugierig. Sie nimmt wahr, was in ihrer Nachbarschaft passiert, und fragt, was die Menschen in ihrem Umfeld bewegt.“
Susanne Talmon und Stefan Heinig

Dies geschieht nicht in der Absicht, neue Kir­chenmitglieder zu gewinnen. Sondern aus der Überzeugung, dass sich der kirchliche Auftrag zur Kommunikation des Evangeliums nicht nur in Wor­ten, sondern auch im Tun äußert, und dass Kirche immer ein Teil des lokalen Gemeinwesens ist.

In der EKHN machen bereits viele Kirchen­ge­meinden genau dies: Sie betreiben Familienzen­tren, Kleiderkammern oder Nachbarschaftscafés. Sie öffnen ihre Räume für Initiativen und Vereine, arbeiten eng mit diakonischen Einrichtungen vor Ort zusammen oder engagieren sich in kommunalen Netzwerken. Beispielgebend sind unter anderem die DRIN-Projekte, die von 2014 bis 2019 von EKHN und Diakonie gefördert wurden und in vielen Orten bis heute fortgeführt werden.

Selbstverständnis

Im aktuellen Entwicklungsprozess ekhn2030 soll die kirchliche Arbeit nun systematisch mitglieder- und gemeinwesenorientiert ausgerichtet werden. Grundlegend dafür ist die Auseinandersetzung mit der Frage, welche Kirche man (im neuen Nach­bar­schaftsraum) sein will – wie, für und mit wem. Hier­bei sollen die Interessen der Kirchenmitglieder ebenso einfließen wie die Bedürfnisse der Men­schen in den Dörfern und Stadtteilen. Eine gemeinwesenorientierte Kirche ist offen und neugierig. Sie nimmt wahr, was in ihrer Nachbarschaft passiert, und fragt, was die Menschen in ihrem Umfeld bewegt. Orientiert an den tatsächlichen Bedarfen will sie vor Ort einen konkreten Beitrag leisten für Frie­den (z. B. demokratisches Zusam­menleben), Ge­rech­tigkeit (z. B. Armutslinderung) und/oder Bewahrung der Schöpfung (z. B. Arten­vielfalt). Und sie gestaltet kirchliche Aktivi­täten nicht nur FÜR, sondern MIT den Menschen vor Ort, unabhängig von einer Kirchenmit­glied­schaft.

Rausgehen, hinschauen, zuhören

Mit dieser Haltung fällt es leicht, vor dem konkreten Handeln erst einmal genau hinzuschauen und zuzuhören, was außerhalb der Kirchen in den Dörfern und Stadtteilen geschieht. Das Bewusstsein für die Themen, die die Menschen im Viertel beschäftigen, ist hier genauso relevant wie das Kennen anderer Akteur*innen vor Ort und das Wissen um die Bevölkerungs-, Bebauungs- und Infrastruktur sowie die aktuellen kommunalen Planungen.

Ein ganz einfacher Schritt kann dabei unterstützen: Fragen Sie zu Beginn jeder Sitzung (des Kirchenvorstandes, von Ausschüssen etc.), welche Themen gerade im Dorf oder in der Stadt anliegen. Oder setzen Sie sich auf eine öffentliche Bank, bieten Sie eine Tasse Kaffee und ein offe­nes Ohr an und kommen Sie ins Gespräch mit Nach­bar*innen und Passant*innen. Spannend kann es auch sein, beim Kennenlernen im Nach­­bar­schafts­raum über die Kirchen und Gemeinde­häuser hinaus eine „Entdeckertour“ durch das jeweilige Viertel oder Dorf zu machen (Erfahrung aus dem Vorderen Odenwald, siehe t1p.de/3boxm). Ebenso kann das Geo­InformationsSystem der EKHN eine hilfreiche Informationsquelle sein (https://webgis.ekhn.de), und natürlich der persönliche Austausch mit z. B. kommunalen Ent­scheidungsträgern.

 

Sozialraum- und Gemein­wesen­orien­tie­rung bei der Bildung und Ausgestaltung der Nachbarschaftsräume

 

Gemeinwesenorientiert entscheiden und gestalten

Das Wissen um die aktuellen lokalen Themen und die örtlichen Gegebenheiten können helfen, anstehende Entscheidungen im Nachbarschaftsraum nicht nur mit Blick auf das kirchliche Leben, sondern auch entsprechend der Bedarfe im Dorf oder Stadt­teil zu treffen: Welche Angebote für Ju­gend­liche, Familien oder ältere Menschen machen wir an welchem Standort? Wie stellt sich das Ver­kün­digungs­team fachlich und örtlich auf? Wo müssen wir niedrigschwellige, gut erreichbare Begeg­nungs­orte erhalten? Welche Perspektiven gibt es für Gebäude, die künftig nicht mehr kirchlich finan­ziert werden können? Gemeinwesen­orientie­rung ist also nicht per se ein Thema oder Angebot „on top“, sondern ein grundsätzliches Handlungs- und Gestaltungs­prinzip.

Kräfte bündeln, Kooperationen stärken, Empowerment fördern

Der Blick in die Dörfer und Stadtteile hat einen weiteren Vorteil: Die Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Kooperationspartner*innen hilft, Kompe­ten­zen zu ergänzen, Aufgaben strategisch aufzuteilen und dadurch Ressourcen zu schonen. Kirche muss und kann nicht alles selber machen!

Im Nachbarschaftsraum ist insbesondere die Kooperation mit diakonischen Einrichtungen vor Ort zu empfehlen: Wer ist wo sozialdiakonisch aktiv? Können kirchliche Gebäude gemeinsam genutzt oder von der Diakonie übernommen werden? Machen eine Zusammenlegung des Ehren­amtsmanagements und/oder eine gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit Sinn?

Die Kommune wiederum ist sicherlich dankbar, wenn sie zum Beispiel im Rahmen ihres kommunalen Hitzeaktionsplans auf kühle Kirchen­räume verweisen kann – die so mit gemeinsamen Res­sour­cen zeitweise zu niedrigschwelligen Be­gegnungs­orten werden können. (Weitere gemeinsame The­men: siehe Interview S. 6–7)

Auch andere Glaubensgemeinschaften, Ver­eine und Initiativen können einmalig oder länger­fristig als Kooperationspartner interessant sein. Offenheit, Kreativität und der Mut, auf andere Akteur*innen zuzugehen, öffnen also ganz neue Handlungsoptionen – für kirchlich-strukturelle Auf­gaben und für das gute Zusammenleben vor Ort. Kirche ist kompetente und engagierte Akteurin „mittendrin“!


1 Im Rahmen der Regionalentwicklung der EKHN haben sich bis Ende 2023 jeweils mehrere Kirchengemeinden innerhalb eines Dekanats zu einem „Nachbarschaftsraum“ zusammengeschlossen. Sie arbeiten hier enger zusammen und nutzen gemeinsame Strukturen.

 


Fachliche Unterstützung durch das ZGV

Webseite „Gemeinwesen“ des ZGV:
www.kurzelinks.de/mi44

Handreichung „Gemeinwesenorientierung im Nachbarschaftsraum“:
www.t1p.de/qo01z

YouTube-Playlist „Gemeinwesenorientierung“:
www.t1p.de/ifq29

Netzwerk Gemeinwesen­diakonie und Quartiersarbeit:
https://t1p.de/1rs8i