Perspektiefe 36, April 2015

„Digitale Netzwerke eröffnen neue Chancen“

INTERVIEW: Interview mit Professor Dr. Roland Rosenstock von der Theologischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt- Universität Greifswald zur Bedeutung der digitalen Welt für die Gesellschaft, den Einzelnen und die Kirche.

Die Fragen stellten Margit Befurt und Michael Grunewald, ZGV „Die Entwicklung der Medien im 21. Jahr­­hun­dert fordert die eta­blier­ten Kirchen noch stärker heraus, sich für Beteiligungs­gerech­­tig­keit und informa­tio­nelle Selbst­bestim­mung einzusetzen.“ Prof. Dr. Roland Rosenstock

Was bedeutet die Digitalisierung der Gesellschaft für den Einzelnen?

Rosenstock: Die meisten Tätigkeiten unseres All­tags sind mit der Benutzung des Computers oder des Smartphones verbunden. Das betrifft zum Beispiel die Veränderung unserer Gewohn­heiten im Freizeitbereich und unser Kaufverhalten: Wer eine Reise bucht, schaut erst einmal ins Internet, um die schönsten Reiseziele und die billigsten Hotels herauszufinden. Wer sich mit anderen Men­schen verabredet, wird nicht mehr jeden Kontakt einzeln anrufen, sondern sich über sein soziales Netzwerk mit allen Kontakten zugleich verständigen. Wer sich neue Möbel, technische Geräte oder höherwertige Kleidung kaufen möchte, wird auf Onlineportalen einen Preisvergleich einholen und tendenziell zumeist das billigste Angebot über das Internet bestellen.  Ob beim Bau eines Hauses oder der Ansied­lung eines mittelständischen Unternehmens ist die Möglichkeit einer schnellen Internetanbindung zu einer der wichtigsten Vorausetzungen für den Standort geworden. Wenn die deutsche Auto­industrie unter Hochdruck in die Entwicklung von computergesteuerten Fahrzeugen investiert und wir in fünf Jahren ohne Lenkrad und Pedale von München nach Hamburg fahren werden, dann wird deutlich, dass die technischen und ökonomischen Entwicklungen das Zusammenleben in unserer Gesellschaft nachhaltig verändern. Es entstehen neue soziale Räume, und wir befinden uns mitten in einem grundlegenden Wandel der Kom­mu­nikations- und Geselligkeitskulturen, der Kauf- und Vertriebsgewohnheiten. Medienbildung gehört heute zu den wichtigsten Voraussetzungen, um an einer Hochschule studieren oder ein Hand­werk erlernen zu können. Auch verändern sich unsere medialen Ge­wohn­­heiten: Das klassische Fernsehen verliert in Deutsch­land immer mehr an Bedeutung. Filme, Serien und Dokumentationen werden zunehmend im Internet geschaut, und die Bewegtbildangebote bei You­Tube zeigen, wohin sich die digitalen Spar­tenkanäle weltweit entwickeln werden.  In der Wissenschaft sprechen wir daher von der Mediatisierung der Alltagswelt, die ebenso unsere Arbeitsprozesse, aber auch das Auf­wach­sen von Kindern und Jugendlichen bereits nachhaltig verändert hat. Für jüngere Menschen ist das Internet ein erweiterter sozialer Raum, in dem sie sich selbstbewusst bewegen wie auch in anderen sozialen Räumen, zum Beispiel einer Kirchen­gemeinde, einem Sportverein oder einer Bildungs­einrichtung. Da das Smartphone heute für viele Menschen zu ihren wichtigsten Habseligkeiten
ge­hört, wird es zu unserem täglichen Begleiter. Wie ich mit meinem digitalen Begleiter umgehe, entscheidet darüber, wofür ich meine Zeit einsetze und wer meine Aufmerksamkeit beanspruchen darf.


Warum soll sich Kirche damit beschäftigen? 

Rosenstock: Mit großen Schritten gehen wir auf das Reformationsjubiläum 2017 zu. Das Jahr 2015 steht unter dem Titel „Bild und Bibel“. Ohne die Medieninnovationen im 15. und 16. Jahrhundert hätte der Protestantismus seine prägende Kraft für Europa nicht entfalten können. Für den Protes­tan­tismus sind die digitalen Medien keine Bedro­hung, sondern eine Chance, ihre Kommunikations­strategien zu überdenken. Das digitale Netz – als erweiterter sozialer Raum – gibt der Kirche neue Möglichkeiten, ihrem Wesen im 21. Jahrhundert Ge­stalt zu verleihen und die Ziele evangelischer Freiheit, Partizipation und Bildung noch profes­sioneller zu verfolgen.  Wie die Evangelische Kirche in der Öffent­lichkeit wahrgenommen wird, entscheidet sich darin, wie sie lernt, sich im digitalen Netz zu präsentieren und – das ist noch wichtiger – auch gefunden zu werden. Die zurückliegende EKD-Synode hat gezeigt, dass es hier einer strate­gi­schen Planung bedarf, die stärker mit den Nut­­zern zusammen entwickelt werden sollte. Dabei kommt es auf die persönliche Kommuni­kation an. Die Menschen identifizieren sich ja nicht mit geschichtlich gewachsenen Landeskirchen oder Kirchen­bünden und deren Imagekampagnen oder Nach­richten­seiten, sondern mit Menschen, die als evangelische Christen erkennbar sind.  Die Entwicklung der Medien im 21. Jahrhundert fordert die etablierten Kirchen noch stärker her­aus, sich für Beteiligungsgerechtigkeit und informationelle Selbstbestimmung einzusetzen. Dazu gehört, dass Presse- und Meinungsfreiheit auch innerhalb der evangelischen Kirchen ein hohes Gut sein sollten.  Die crossmediale Auseinandersetzung um die Mohammed-Karikaturen in Frankreich und Deutsch­land zeigt darüber hinaus, dass die Grund­rechte der Meinungs-, Kunst- und Religions­freiheit nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Der Protestantismus hat hier eine besondere Aufgabe, denn es war der Gedanke der Freiheit eines Christenmenschen, der trotz eigener Verirrungen der Evangelischen Kirchen in Europa den Weg für die Freiheitsrechte geebnet hat.   

These: Die Digitalisierung der Gesellschaft führt zur Veränderung von Privatheit. Stellt sie das Konzept der Privatheit in Frage?

Rosenstock: Grundsätzlich: Ja. Das Verhältnis von Intimität und Öffentlichkeit verändert sich. Jeder Nutzer von sozialen Netzwerken, die eine europaweite oder sogar weltweite Kommunikation ermöglichen, kann diese Veränderung mitverfolgen. Als Nutzer kann ich selbst entscheiden, was ich im digitalen Raum preisgebe. Allerdings muss mir bewusst sein, dass jede Information, die ich veröffentliche, mir nicht mehr allein gehört. Dabei hat sich ein utilitaristisches Rechtssystem durchgesetzt, das die Interessen eines Unternehmens, von Geheimdiensten oder bestimmten Öffentlichkeiten höher bewertet als die des Einzelnen.  Geheim­dienste, Suchmaschinenanbieter und Werbestrate­gen verfolgen unsere digitalen Spuren, um sich ein Bild von uns zu machen. Das geistige Eigentum von Unternehmen und Einzelpersonen landet auf Servern außerhalb Deutschlands, so dass es durch unseren Rechtsstaat nicht mehr geschützt werden kann.  Die Verantwortung des Einzelnen über das, was er veröffentlichen oder als Geheim­nis bewahren möchte, nimmt zu. Damit eröffnen sich auch neue Herausforde­run­gen für den Daten- und Ver­braucher­schutz. Die Evangelische Kirche sollte dabei ihr gesellschaftliches Wächteramt noch stärker ausüben und im reformatorischen Sinn für das Menschenrecht auf ein Geheimnis, eine respektvolle Kommunika­tions­kultur und digitale Zivil­courage eintreten. Auf einem vielbeachteten Me­dien­konzil (www.medienkonzil.de) werden wir unter dem Titel „Bürgersein in der digitalen Welt“ vom 21.–22. Mai in Nürnberg in einer Gruppe von Medienethikern ein ambitioniertes Medien­papier veröffentlichen, das die Ergebnisse der EKD-Synode weiterführen und mit konkreten gesellschaftlichen und kirchlichen Zielstellungen verbinden wird.

These: Die Kirche verliert durch die Digitalisierung den Anschluss an die Menschen. Wird sich die Kirchenferne dadurch vergrößern?

Rosenstock: Das Wesen der Evangelischen Kirche ist Kommunikation und Gemeinschaft. Digitale Netz­werke eröffnen neue Chancen, da die gemeinsame Nutzung von sozialen Netzwerken auch neue Formen der sozialen Verbundenheit eröffnen. Dabei spielt die Glaubwürdigkeit einer Information und der Vorschuss an Vertrauen einem Menschen gegenüber, den ich nur als digitale Person oder Avatar kenne, eine große Rolle. Kirche kann hier, gegen die Vorherrschaft der ökonomischen Inte­ressen von einzelnen Monopolisten, durch eigene Angebote und eine couragierte Netz­politik eine freie Kommu­nika­tions­­kultur unterstützen. Beson­ders Jugendliche spüren heute, ob Kir­che ein ech­tes Interesse für ihre Lebens­­welten ent­­wickelt oder eine bewahrpädagogische Me­dien­­erziehung verfolgt. In Gemeindehäusern und Ju­­gend­­einrich­tungen kann Kirche Kin­dern, Ju­gend­­lichen und Erwach­senen in besonderen Lebens­lagen Zu­gang zu der digitalen Welt und eine qualifizierte Medienbildung eröffnen und damit ihre Potenziale fördern. Machen wir ihnen doch ein An­gebot, den evangelischen Glau­ben im Netz kennenzulernen. Mit www.kirche-entdecken.de haben wir eine Platt­form geschaffen, die sich vor allem an Kinder richtet, die in entkonfessionalisierten Räumen aufwachsen. Und mit dem Kinderkanal von ARD und ZDF ist mit www.chirho.tv ein crossmediales Angebot entstanden, das Grundschulkindern die biblischen Geschichten spielerisch vermittelt.  Die Gruppe der Medioren, Menschen im mittleren Alter zwischen 60 und 75 Jahren, wächst aufgrund des demographischen Wandels immer stärker. www.unsere-zeiten.de gibt ihnen eine niederschwellige Plattform, sich über sinnorientierte The­men auszutauschen.  Die evangelische Kirche sollte sich in ihren An­geboten dabei auch den Milieus zuwenden, die weniger bildungsbürgerlich geprägt sind. Die Medien bieten die Möglichkeit, wieder eine Brücke zu den Menschen zu bauen.  Grafiken zum Text finden Sie im PDF der Perspektiefe