Perspektiefe 39, März 2016

"Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert" - Der Mindestlohn aus sozialethischer Perspektive

SOZIALETISCHER IMPULS: Jeder muss von seiner Arbeit leben können. Allein durch den Mindestlohn wird die Armut nicht besiegt.

von Pfarrer Dr. Ralf Stroh, Referat Wirtschaft & Finanzpolitik, ZGV Die Evangelische Kirche in Deutschland hat in den vergangenen Jahren mehrmals zur Frage des Mindestlohnes sozialethisch Stellung bezogen. Bereits im Jahre 2009 veröffentlichte die EKD eine von der Kammer für soziale Ordnung ausgearbeitete Argumentationshilfe zum Pro und Contra in Sachen Mindestlohn. Die abschließende Ziffer 20 dieses EKD-Textes bündelt die Argumente:
„Wägt man die Argumentationen gegenein­ander ab, so lässt sich einerseits festhalten, dass ein allgemeiner staatlich definierter Mindestlohn in der Tat eine gewisse Sicherung vor Lohnverfall in den unteren Lohnbereichen wäre und, bei ent­sprechender Höhe, auch ein pragmatisch sinnvoller Bezugspunkt für die Lohnfindung sein könnte. Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Deut­schen einen Mindestlohn für gerecht hält. Die Einführung eines Mindestlohns hat offenbar auch Symbolkraft: sie könnte die Wertschätzung von Arbeit sichtbar und öffentlich stärken.
Allein durch einen Mindestlohn wäre aber andererseits Armut noch nicht besiegt, und auch die Umsetzung des Postulates, dass ein jeder und eine jede von seiner bzw. ihrer Arbeit leben können muss, wäre dadurch keineswegs gewährleistet. Schon jetzt liegt der Durchschnittslohn der „Aufstocker“ über der Höhe des diskutierten Mindestlohns. Es gäbe also auch weiterhin viele denkbare Konstellationen, in denen vor allem Familien mit Kindern zusätzliche Transferleistungen benötigten. Im Blick auf eine nachhaltige Armutsbekämpfung bleibt deshalb die Investition in Infrastruktur zur Unterstützung von Familien entscheidend.“1 Arbeit ist wesentlicher Bestandteil menschlicher Existenz
Die Chancen des gesetzlichen Mindestlohnes hat die 2015 veröffentlichte EKD-Denkschrift „Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt“ herausgestellt:
„Selbstverständliches Ziel muss (…) bleiben, dass jeder Vollzeitbeschäftigte von seinem Einkommen auch seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Der gesetzliche Mindestlohn seit Januar 2015 kann vielen Beschäftigten im Niedriglohnbereich ein höheres Erwerbseinkommen ermöglichen.“2
Leitend sind bei diesen Überlegungen das christliche Menschenbild und seine reformatorische Ausdeutung. Das biblische Zeugnis hält fest, dass Arbeit ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Existenz ist. Dabei kommt menschliche Arbeit zunächst in einem weiten Sinne in den Blick, der die Erwerbsarbeit mit umfasst, aber eben nicht in ihr aufgeht. Dies gilt es bei allen Überlegungen zur Erwerbsarbeit mit im Blick zu behalten, um nicht die gesellschaftliche Bedeutung jener Arbeit geringzuschätzen, die selber keine Erwerbsarbeit ist, aber die Voraussetzung dafür bildet, dass eine Gesellschaft überhaupt in die Lage versetzt wird, Erwerbsarbeit zu organisieren.
Dabei dient der gerechte Lohn nicht nur der finanziellen Ermöglichung des Überlebens, sondern ist Zeichen der Wertschätzung der Person. Mit dem Lohn wird nicht nur das physische Überleben der Person gesichert, sondern auch ihre soziale Einbindung in das gesellschaftliche Miteinander und ihre Teilhabe an den sozialen Gütern einer Gesellschaft. Ausreichender Lohn ist mehr als Existenzminimum
Wo Arbeit in einer Weise organisiert wird, dass dieses nicht möglich ist, liegen ethisch nicht akzeptable Deformationen der Gesellschaft vor. Hier ist dringender Handlungsbedarf geboten, den in früheren Zeiten nicht nur kirchliche Vertreter, sondern sogar maßgebliche politische Entscheidungsträger deutlich zu formulieren wussten:
„Unternehmen, deren Existenz lediglich davon abhängt, ihren Beschäftigten weniger als einen zum Leben ausreichenden Lohn zu zahlen, sollen in diesem Land kein Recht mehr haben, weiter ihre Geschäfte zu betreiben. (…) Mit einem zum Leben ausreichenden Lohn meine ich mehr als das bloße Existenz­minimum – ich meine Löhne, die ein anständiges Leben ermöglichen.“ (Franklin D. Roose­velt, Statement on the National Industrial Recovery Act, June 16, 1933).
An diesem Punkt gibt es also erstaunliche Traditionen einer menschengemäßen Ausrichtung von Politik und Wirtschaft, die wieder in Erinnerung gerufen werden sollten. Da zudem evangelische und katholische Christen sich hier zumindest auf der Ebene der offiziellen kirchlichen Lehre erfreulich einig sind, eröffnen sich eigentlich Chancen für ein wirkungsvolles gemeinsames Auftreten in der Öffentlichkeit:
„Wenn also auch immerhin die Vereinbarung zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, insbesondere hinsichtlich des Lohnes, beiderseitig frei geschieht, so bleibt dennoch eine Forderung der natürlichen Gerechtigkeit bestehen – die nämlich, dass der Lohn nicht etwa so niedrig sei, dass er einem genügsamen, rechtschaffenen Arbeiter den Lebensunterhalt nicht abwirft. Diese schwerwiegende Forderung ist unabhängig von dem freien Willen der Vereinbarenden. Gesetzt, der Arbeiter beugt sich – aus reiner Not oder um einem schlimmeren Zustande zu entgehen – den allzu harten Bedingungen, die ihm nun einmal vom Unternehmer auferlegt werden, so heißt das Gewalt leiden, und die Gerechtigkeit erhebt gegen einen solchen Zwang Einspruch.“ (Enzyklika „Rerum novarum“, Ziff. 34)
Für beide Konfessionen ist nach biblischem Zeugnis die gerechte Entlohnung geleisteter Arbeit eine unausweichliche Forderung des Glaubens. In klassischer Formulierung: „Ein Arbeiter ist seines Lohnes wert“ (1. Timotheus 5,18). Auch hier zeigt sich: Das biblische Zeugnis ist ein guter Orientierungspunkt für die Wahrnehmung gesellschaftlicher Verantwortung durch die Kirchen.
1 Pro und Contra Mindestlöhne – Gerechtigkeit bei der Lohngestaltung im Niedriglohnsektor.
Eine Argumentationshilfe der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für soziale Ordnung, Hannover 2009, S. 19. 2 Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu Arbeit, Sozialpartnerschaften und Gewerkschaften, Gütersloh 2015, S. 108.