Perspektiefe 39, März 2016

Ob das Dach dicht ist, zeigt sich erst bei Regenwetter

STANDPUNKT: Seit etwas mehr als einem Jahr gibt es den gesetzlichen Mindestlohn – bislang ohne sichtbare Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt. Doch es wäre zu früh, von einer Erfolgsgeschichte zu sprechen. Denn die niedrigen Energiepreise, die gute Konjunktur und die Reallohnentwicklung machen eine abschließende Beurteilung der Mindestlohneffekte momentan unmöglich.

von Werner Simon, Hauptgeschäftsführer der Landesvereinigung Unternehmerverbände Rheinland-Pfalz (LVU) Hinzu kommt: Neben den Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat der Mindestlohn zu einer Reihe von Rechtsfragen geführt, die noch ungeklärt sind und beispielsweise dazu geführt haben, dass das Angebot an Praktika geschrumpft ist. Ein weiterer Aspekt ist die Frage, welche Auswirkungen der Mindestlohn auf Tarifbindung und Lohnfindung hat. Auch hier ist es für eine abschließende Bewertung noch viel zu früh. Der Überbietungswettlauf aus der Politik nach Forderungen, den Mindestlohn zu erhöhen, lässt indes wenig Gutes ahnen. Doch der Reihe nach. Werfen wir zunächst einen Blick auf den Arbeitsmarkt. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit gab es im September 128.000 Minijobs weniger als vor einem Jahr. Es deutet viel darauf hin, dass ein Großteil des Verlusts auf den Mindestlohn zurückzuführen ist. Mindestlohnbefürworter begrüßen diesen Rückgang sogar. Eine fragwürdige Bewertung, denn viele Minijobber verdienen sich als Rentner, Schüler oder Studenten lediglich etwas hinzu. Für sie kommt eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung – schon gar nicht in Vollzeit – nicht in Frage. Ihnen hat der Mindestlohn ihre (Zu-)Verdienstmöglichkeit genommen. Die Arbeitslosenquote berührt das nicht, da diese Personengruppen sich nicht arbeitslos melden können.
Auch daher sieht die Arbeitsmarktbilanz für 2015 gut aus. Die Arbeitslosenquote ist auf dem niedrigsten Stand seit der Wiedervereinigung. Gleichzeitig ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im vergangenen Jahr um 688.000 auf ein neues Allzeithoch gestiegen. Das IAB schätzt, dass rund 50.000 Minijobs in sozialversicherungspflichtige Stellen umgewandelt wurden. Erfreulich ist, dass der Mindestlohn den seit Jahren anhaltenden Aufbau sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung nicht abgewürgt hat. Dies ist auch der guten Konjunktur und einigen Sondereffekten zu verdanken. Gestiegene Lohnkosten werden weitergereicht
Vom Mindestlohn betroffene Unternehmen – diese sind vor allem im Dienstleistungssektor zu finden – konnten die gestiegenen Lohnkosten oftmals in Form höherer Preise an die Kunden weiterreichen. So mussten Kunden für Dienstleistungen 2015 deutlich mehr zahlen müssen als vor einem Jahr: Taxifahrten haben sich um rund 13 Prozent verteuert, Haushaltshilfen um über 4 Prozent, Wäschereidienstleistungen und Restaurantbesuche jeweils um rund 3 Prozent. Die Kunden haben diese Preissteigerungen akzeptiert. Ein Nachfragerückgang mit negativen Folgen für Unternehmen und Beschäftigte ist ausgeblieben. Und damit sind wir bei den Sonderfaktoren niedrige Energiepreise und niedrige Inflation. Dieses Weiterreichen eines Teils der gestiegenen Lohnkosten an die Kunden hat nur funktioniert, da die Deutschen 2015 im Durchschnitt dank kräftiger Tarifsteigerungen, niedriger Inflation und stark gefallener Energiepreise deutlich mehr Geld im Portemonnaie hatten als in den Vorjahren.
Hinzu kommt, dass auch die Dienstleistungsunternehmen durch den sinkenden Ölpreis Kosten gespart haben. Viele Betriebe konnten auch damit einen Teil der höheren Lohnkosten kompensieren.
Damit ist auch klar, dass dem Mindestlohn die Nagelprobe am Arbeitsmarkt erst noch bevorsteht. Problematisch wäre vor allem eine Phase anziehender Inflation, steigender Energiepreise und schrumpfender Wirtschaft. Ob das Dach dicht ist, zeigt sich erst bei Regenwetter. Der Mindestlohn war bisher eine Schönwetterveranstaltung. Rechtsunsicherheit in Detailfragen
Kommen wir zu rechtlichen Problemen, die mit dem Mindestlohn verbunden sind. Diese stehen selten im Fokus der Öffentlichkeit, zu Unrecht, da ein verlässlicher und stabiler Rechtsrahmen eine Grundvoraussetzung für eine florierende Wirt­schaft sind. Zu den ungelösten Rechtsfragen zählt beispielsweise die weiterhin bestehende Unklarheit, welche Lohnbestandteile, wie Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld oder Boni, in den Mindestlohn miteingerechnet werden können. Die leichtfertigen Formulierungen im Gesetz haben bedauerlicherweise dazu geführt, dass die Arbeitsgerichte hierzu unterschiedliche Auffassungen vertreten.
Unklar ist des Weiteren die Reichweite der Haftung für den Mindestlohn bei der Vergabe eines Auftrags an ein anderes Unternehmen. Gilt die begrenzte Generalunternehmerhaftung oder die unbegrenzte Auftraggeberhaftung? Die Rechtsunsicherheit zeigt sich schon daran, dass das Bundesarbeitsministerium gegenüber dem Zoll (online und rechtsunverbindlich) „klarstellen“ musste, dass nur eine Generalunternehmerhaftung gewollt sei. Ob die Gerichte das in Ansehung des Gesetzestextes auch so sehen, ist völlig offen.
Ärgerlich ist zudem, dass weiterhin unklar ist, welche Praktikanten nicht unter den Mindestlohn fallen. Das Gesetz unterscheidet bei Studenten zwischen freiwilligen und Pflichtpraktika. Doch welche Nachweise reichen aus? Reicht eine Kopie der Studienordnung oder benötigt jeder Studentenpraktikant die Bestätigung seiner Hochschule? Auch die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt wird erschwert: Muss einem Flüchtling mit ausländischer Erstausbildung in einem Orientierungspraktikum der Mindestlohn gezahlt werden? Das Problem bei diesen und vielen anderen offenen Fragen ist, dass Unternehmen dazu neigen, solchen juristischen Fallstricken aus dem Weg zu gehen. Das heißt bei den Praktika: Sie reduzieren das Angebot bzw. sie bieten keine Praktika mehr an, die länger als drei Monate dauern. In jedem Fall sind junge Menschen, die sich beruflich orientieren und Praxiserfahrung sammeln wollen, die Leidtragenden. Tarifautonomie ade?
Zum Abschluss wollen wir einen Blick werfen auf die Frage, wie der Mindestlohn die Lohnfindung in Deutschland verändert hat. Mit dem Mindestlohn hat erstmals die Politik die Lohnhöhe per Gesetz beschlossen. Selbst die Befürworter wollten indes nicht, dass der Mindestlohn zum Spielball in Wahlkampfzeiten wird. Die weitere Entwicklung des Mindestlohns wurde daher einer Kommission übertragen, in der Vertreter von Gewerkschaften, Arbeitgebern und der Wissenschaft zusammenarbeiten. Diese soll, so die Theorie, die Lohnentwicklung verfolgen und daran orientiert einen Vorschlag machen, um wie viel Prozent der Mindestlohn steigen soll. Die Praxis sieht anders aus. Schon jetzt überbieten sich Politiker mit Forderungen, wie schnell um wie viel Euro der Mindestlohn angehoben werden sollte. Das Problem dabei: Eigentlich soll der Mindestlohn – nomen est omen – das absolute Minimum markieren. Umso höher und schneller der Mindestlohn steigt, umso größer ist die Gefahr, dass er einen Standard beschreibt. Manch ein Unternehmen könnte dann auf die Anwendung eines Tarifvertrages verzichten. Das wäre ein weiterer Beitrag des Mindestlohns, die in Deutschland traditionell starke und gut eingespielte Tarifautonomie zu beschädigen. Die Leidtragenden wären die Beschäftigten und die Unternehmen. Es war die bewährte Tarifautonomie, die uns die Weltwirtschaftskrise 2008/2009 beispiellos hat überwinden helfen. www.lvu.de Grafik: Niedrige Tariflöhne sind fast verschwunden - Der Anteil der tariflichen Branchenlöhne unter 8,50 Euro lag bei ... Grafik: Mehr Geld für Geringverdiener - Nach Einführung des Mindestlohns stiegen die Stundenlöhne um ...