Perspektiefe 39, März 2016

Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland - eine erste Bilanz

STANDPUNKT: Fast zehn Jahre wurde die Debatte über die Einführung eines Mindestlohns sehr kontrovers geführt. Mit ihren Prognosen in Hinblick auf Beschäftigungseffekte eines gesetzlichen Mindestlohns hat die deutsche Wirtschaftswissenschaft bis zur Verabschiedung des Gesetzes vor verheerenden Arbeitsplatzverlusten zwischen 200.000 und 1,5 Millionen gewarnt und damit negative Stimmung verbreitet. Im Folgenden soll unter Berücksichtigung der Erfahrungen der DGB-Mindestlohn-Hotline eine erste Bilanz gezogen werden.

von Brigitte Baki, DGB-Bezirk Hessen-Thüringen, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik Am 1. Januar 2015 wurde das Mindestlohngesetz (MiLoG) in Kraft gesetzt und dient seither als Grundlage für den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von derzeit 8,50 Euro. Noch gelten weitere allgemeinverbindliche Branchenmindestlöhne auf Basis von Tarifvertragsgesetz (TVG), Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) und Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG). Für eine Übergangszeit von zwei Jahren, bis Ende 2016, dürfen bestehende Branchenmindestlöhne noch unter dem allgemeinen Mindestlohn von 8,50 Euro liegen.
Für seine Wirksamkeit als auch für seine Akzeptanz sollte die Gestaltung des Einführungsprozesses von entscheidender Bedeutung sein. Bereits in der Zeit des Gesetzgebungsverfahrens zeichneten sich deutliche Schwachpunkte ab. Da sind die Ausnahmen in der Anwendbarkeit des Mindestlohns für Minderjährige, bestimmte Praktikanten und Langzeitarbeitslose. Hinzu kamen zusätzliche befristete Absenkungen für Zeitungszusteller oder die Ausweitung der Sozialversicherungsfreiheit für Saisonarbeitnehmer. Die Einhaltung der gesetzlichen Regelungen gerade wegen der zahlreichen Ausnahmen stellte sich ebenfalls schon frühzeitig als Problem heraus, denn die Finanzkontrolle Schwarzarbeit war auf diese Aufgabe personell unzureichend vorbereitet. Kontrollen sind notwendig
Weil das Mindestlohngesetz keine präzise Definition enthält, bleiben viele Fragen offen. Es wird einige Jahre dauern, bis zu seiner Durchsetzung auf eine gefestigte Rechtsprechung zurückgegriffen werden kann. Mit Hilfe einer eigens zur Erfassung solcher offenen Fragen bzw. von möglichen Ausweichtatbeständen eingerichteten Hotline beim Deutschen Gewerkschaftsbund konnte relativ schnell in Erfahrung gebracht werden, wie erfinderisch Arbeitgeber beim Umgehen der gesetzlichen Vorschriften sein können. Zu den häufigsten Umgehungsstrategien zählen:
– Die Vorlage von neuen Arbeitsverträgen mit verkürzter Arbeitszeit bei Beibehaltung des bisherigen
   Umfangs der Arbeit
– Lohnzahlung in Form von Naturalien oder Gutscheinen, beispielsweise in der Gastronomie, im Handel
   oder in Solarien
– Anrechnung von Sonn-, Feiertags- oder Nachtzuschlägen auf den Mindestlohn
– Abzug der Kosten für Dienstkleidung vom Lohn
– Anrechnung von Trinkgeldern
– Unvergütete Warte- und Bereitschaftszeiten Wenn das Mindestlohngesetz wirken soll, sind engmaschige Kontrollen notwendig. Hierfür sieht das Gesetz Dokumentationspflichten vor, damit die Arbeitszeiten von Beschäftigten nachvollziehbar aufgeführt werden. Das sollte zunächst generell für gewerbliche Minijobs und in den Branchen erfolgen, die im Schwarzarbeiterbekämpfungsgesetz aufgelistet sind. Schon vor Inkrafttreten des Gesetzes wurden diese Vorschriften auf Druck der Arbeitgeber wieder aufgeweicht. So soll bei Beschäftigten mit ausschließlich mobilen Tätigkeiten die Aufzeichnung der bloßen Stundenzahl ausreichen, weil die genaue Zeiterfassung angeblich zu kompliziert sei.
Selbst diese abgespeckte Aufzeichnungspflicht wird von einigen Wirtschaftsvertretern zum Anlass genommen, noch immer von einem „Bürokratiemonster“ zu sprechen. Bereits sechs Monate nach Einführung des Mindestlohns wurde den dauernden Beschwerden aus Unionspolitik und Wirtschaft nachgegeben und eine Verordnung zur Vereinfachung beim Schwellenwert zur Aufzeichnungspflicht erlassen. Notwendigkeit flankierender Maßnahmen
Mit den Erfahrungen im Einführungsjahr ist rasch deutlich geworden, dass neben verstärkten Kontrollen für die flächendeckende Umsetzung des Mindestlohngesetzes weitere flankierende gesetzliche Maßnahmen notwendig sind. So muss im Arbeitsgerichtsgesetz die Beweislast für Mindestlohnansprüche umgekehrt und ein Verbandsklagerecht eingeführt werden. Damit würde der Druck, dem der einzelne Arbeitnehmer ausgesetzt ist, verringert werden.
Auch das Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz muss dringend auf weitere Branchen, insbesondere auf das Bäckerhandwerk und auf den Handel ausgedehnt werden, denn dort wird erfahrungsgemäß oft gegen den Mindestlohn und das Arbeitszeitgesetz verstoßen. Derzeit gelten laut diesem Gesetz etwa für das Baugewerbe, das Hotel- und Gaststättengewerbe, die Gebäudereinigung und die Fleischwirtschaft besondere Pflichten. Dem Mindestlohn durch neue Arbeitsverträge mit kürzeren Arbeitszeiten auszuweichen, zählt zu den häufigsten Umgehungstatbeständen. Deshalb müssten hierfür besondere Informationspflichten des Arbeitgebers und Bedenkzeiten für den A­rbeitnehmer festgeschrieben werden, bei deren Nichteinhaltung Schadensersatzansprüche drohen.
Zur Unterstützung der Arbeit des Zolls und der Finanzkontrolle Schwarzarbeit müssten die Bundesländer Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften einrichten. Um die Arbeit des Zolls effektiv zu machen, müsste zudem der Prüfdienst der Rentenversicherung aufgestockt werden. Der Rentenversicherung kommt bei der Kontrolle des Mindestlohns eine zentrale Rolle zu, denn dort werden die Sozialversicherungsbeiträge eingezogen. Der Mindestlohn ist ein arbeitsmarktpolitischer Meilenstein
Im ersten Jahr profitieren rund 3,6 Millionen Menschen von der gesetzlichen Lohnuntergrenze. Laut Statistischem Bundesamt kommt der Mindestlohn genau dort an, wo die Löhne am niedrigsten waren: bei Ungelernten, Beschäftigten in Dienstleistungsbranchen und in Ostdeutschland. Bundesweit konnten Ungelernte im Schnitt ein Lohn-Plus von 3,3 Prozent verbuchen, in den ostdeutschen Bundesländern sogar neun Prozent. Im Gastgewerbe stiegen die Löhne Ungelernter im Schnitt um 6 Prozent, im Osten für weibliche Beschäftigte in der Gastronomie um 19,5 Prozent, im Handel um 2,7 Prozent.
Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nahm 2015 um fast 688.000 Stellen zu – ein Plus von 2,2 Prozent. Ein Teil davon geht auf die Umwandlung von Minijobs in reguläre (Teilzeit-)Stellen zurück. Bis September sank die Zahl derjenigen, die ausschließlich geringfügig beschäftigt sind, um 3,9 Prozent (Ostdeutschland: 7 Prozent). Der Mindestlohn trägt zum Aufbau regulärer Beschäftigung bei, statt die Zahl der Minijobs weiter steigen zu lassen. Im Sommer 2016 wird die Mindestlohnkommission eine Empfehlung für die Erhöhung des Mindestlohns geben. Als Grundlagen werden sowohl die Entwicklung der Tariflöhne als auch eine umfassende Evaluierung des Mindestlohns dienen. Aber schon heute ist klar: Die Gewerkschaftsseite wird keine Ausreden akzeptieren, mit denen der Mindestlohn eingefroren, für Flüchtlinge ausgesetzt oder abgesenkt und durch staatliche Mittel aufgestockt werden soll. www.hessen-thueringen.dgb.de Grafik: Deutschland hinkt beim Mindestlohn hinterher - Die Mindestlöhne in Westeuropa betragen ... Grafik: Mindestlohn meist über 8,50 Euro - Der Mindestlohn beträgt in den Branchen ...