Perspektiefe 34, September 2014

Regionale Schrumpfung gestalten

IM GESPRÄCH

Schrumpfung ist in entlegeneren Regionen längst zum Normalfall geworden. Man denke nur an die leer­stehenden Häuser in manchen Ortskernen. Aber auch vor Städten außerhalb der Wachstumsregionen macht sie nicht halt. Die Folgen treffen Kommunen und Kirchen gleichermaßen. Darüber sprechen Karl-Christian Schelzke, geschäftsführender Direktor des Hessischen Städte- und Gemeinde­bundes und die Stellvertreterin des Kirchen­präsidenten der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), Pfarrerin Ulrike Scherf.

Das Interview führten: Margit Befurt und Dr. Maren Heincke, ZGV

Welche Beobachtungen machen Sie in Ihrer täglichen Praxis und welches sind die Hauptprobleme, die sich daraus entwickeln werden?

Schelzke: Das größte Problem ist der demografi­sche Wandel und der beschränkt sich nicht nur auf zurückgehende Geburten oder das Älter­wer­den der Gesellschaft. Er verursacht auch Wan­­derungs­be­we­gungen. Menschen verlassen ihre Re­gion und ziehen in die Ballungsräume. Die Kos­ten für Infra­strukturmaßnahmen müssen auf we­niger Bürge­rinnen und Bürger verteilt werden. Und es können zusätzliche Kosten entstehen, wie zum Beispiel bei der Abwasserversor­gung: Je weniger Bürger an das Kanalsystem angeschlossen sind, desto mehr Frisch­­wasser muss durch die Rohre gepumpt werden, um sie sauber zu halten. Die Wasserkosten steigen. Die Haupteinnahmequelle der Kommunen ist die Gewerbesteuer. Wenn Gewerbe abwandert, sin­ken die Einnahmen. Wenn weniger Menschen in der Kommune leben, gehen dazu noch die Ein­nahmen aus der Einkommenssteuer zurück. Die Kom­munen haben weniger Geld für die Da­seins­vorsorge und gleichzeitig müssen sie zusätzliche Aufgaben von Bund und Ländern erfüllen. Die Ver­schuldung wird steigen und die Ab­wan­derung ebenfalls. Ein Teufelskreis setzt ein. Scherf: Ähnliche Beobachtungen machen wir auch in den Kirchengemeinden. Sie schrumpfen, weil immer mehr Kirchengemeindemitglieder weg­ziehen, besonders wenn Betriebe schließen und Arbeitsplätze wegfallen.  Was mich dabei besonders besorgt, ist die beginnende Lähmung und die zunehmende Re­sig­nation, die bei den Zurückbleibenden eintritt. Menschen erleben weniger Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten, sie werden antriebslos und können weniger Energie entwickeln, um das zu gestalten, was möglich ist oder neue Ideen für sich und andere zu entwickeln. Wir müssen der Läh­mung und der Resignation etwas entgegensetzen, um eine lebendige Gemeinschaft zu erhalten.
 

Wenn sich in Zukunft Verteilungskonflikte ver­schär­­­fen und die Wanderungsbewegungen zunehmen, muss man dann Dörfer „schließen“ oder gibt es Alternativen?

Schelzke: Über die „Schließung“ von Dörfern will ich jetzt noch nicht nachdenken. Zuerst müssen wir die Probleme positiv angehen. Es könnten  bei­spielsweise vereinbarte Verwaltungsge­mein­schaf­ten entstehen wie in Baden-Württemberg. Jeder Ort behält seinen Bürger­meis­ter und einige Ent­scheidungs­hoheiten. Aber nicht jede Kommune braucht ihren eigenen Bauhof oder eine eigene Personalverwaltung. Identitätsverlust wird dadurch verhindert. Die Bür­gerinnen und Bür­ger müssen sich mit ihrer Kom­­mune identifizieren, um sich an Ver­ände­rungs­­­prozessen zu beteiligen und ihre Ideen ein­zu­brin­gen. Der Kirche fällt dabei eine erhebliche Rolle zu, denn sie ist ebenfalls identitätsstiftend.  Ein Beispiel für bürgerschaftliches Engagement aus Amöneburg: Die Stadt liegt auf einer Anhöhe, die Einkaufsmärkte liegen im Tal. Kurztaktiger öf­­fentlicher Nahverkehr: Fehlanzeige. Die Lösung: oben und unten wurde eine Bank aufgestellt und eine Haltestelle eingerichtet mit dem Schild „Bitte nimm mich mit“. Ältere Menschen setzen sich auf die Bänke und werden von vorbeifahrenden Bür­­gerinnen und Bürgern in die Stadt oder zum Ein­­kauf mitgenommen. Sie gewinnen dadurch ein Stück mehr an Bewegungsfreiheit und alle er­­fah­ren durch die Fahrgemeinschaften ein Zu­sam­men­gehörigkeitsgefühl und gelebte Nach­barschaft. Ich glaube, dass sich auch die Politik vor Ort grund­sätzlich verändern muss. Den Einwohnern muss klar und frühzeitig gesagt werden, wie es um ihre Kommune steht und welche Verände­run­gen angedacht sind. Und sie müssen das Ge­fühl haben, dass ihre Mithilfe begrüßt wird. Alle bisher gemach­ten Erfah­run­gen zeigen: man kann nicht gegen die Bürgerschaft sparen oder Struk­tur­ver­änderungen vornehmen. Recht­zeitige Leit­bild­­pro­zesse zusammen mit den Bewohnern sind dabei hilfreich. Dem Bürgermeister und dem Pfar­rer fällt in solchen Be­teiligungsprozessen eine besondere Rolle zu, denn beiden schlägt man ein Gespräch nicht aus.

Kommunen müssen zusammenarbei­ten. Wie können Kirchen­gemein­den zusammenarbeiten?

Scherf: Da gibt es mittlerweile einige Möglich­keiten. Leitend ist dabei die Überlegung, dass nicht jede Kir­chengemeinde alles alleine machen muss. Ein Kirchenchor kann sich beispielsweise aus mehreren Gemeinden zusammensetzen und in jeder Gemeinde im Gottesdienst mitwirken. Derzeit erproben z. B. fünf Kir­chengemeinden in der EKHN, ihre Pfarrerinnen und Pfarrer zu teilen. Der Rahmen ist ähnlich verbindlich wie bei den vereinbarten Verwal­tungs­gemeinschaften, wie sie Herr Schelzke angesprochen hat. Die An­bindung an die Ortskirchen­ge­meinde bleibt erhalten. An­de­re Auf­gaben werden geteilt. Die Pfarre­rin­nen und Pfar­rer überlegen gemeinsam, wer die Konfir­man­denarbeit für alle übernimmt oder wer Bil­dungs­veranstaltungen organisiert. Der Wunsch, etwas Neues auszuprobieren, gibt den Haupt- und Ehren­amtlichen viel Schwung und neue Energie. Es gibt auch Zusammenschlüsse von Kir­chen­gemeinden. Im Vereinigungsprozess muss sehr darauf geachtet werden, dass die jeweilige Iden­ti­tät mit einfließen darf und nicht das Gefühl herrscht „von uns ist ja nichts übriggeblieben“. Hilfreich da­bei ist es, einige Entschei­dungs­befug­nisse vor Ort zu belassen. Zur Begleitung und in Konfliktfällen bietet die EKHN Beratung und Unterstützung an. Wir müssen auch über den Gebäudebestand nachdenken, denn gerade Kirchengebäude haben im örtlichen Leben eine große, identitätsstiftende Wirkung. Kommunen und Kirchen­ge­meinden müs­­sen gemeinsam überlegen, welche sonstigen Ge­bäude erhalten bleiben können. Denn es wäre fatal, wenn in einem Ort das Dorf­gemein­schafts­haus und das Gemeindehaus der Kirchen­ge­mein­de schließen würden. Gemeinsam müssen wir ein Netz von Räum­lichkeiten erhalten. Das stärkt die Gemein­schaft und trägt zur demokratischen Wil­lens­bil­dung bei. Warum Räume nicht gemeinsam nutzen? Zum Wohle aller und für ein lebendiges Miteinander. Die Kirche will auf jeden Fall in der Fläche bleiben, bei den Menschen vor Ort, um mit ihrer Bot­schaft Hoffnung und Zuspruch zu geben. Um dem Rechnung zu tragen, hat die Kirchensynode bei der Pfarrstellenbemessung beschlossen, neben der Anzahl der Gemeindemitglieder auch die Fläche zu berücksichtigen, das heißt, in der Stadt müssen die Pfarrerinnen und Pfarrer mehr Mit­glieder versorgen als in ländlichen Gebieten.

Wir haben festgestellt, dass die Probleme und Lö­­sungsansätze bei Kirchen und Gemeinden durchaus ähnlich sind. Sehen Sie auch ge­meinsame Stra­­te­gien und Möglichkeiten der Zu­sammenarbeit?

Schelzke: Frau Scherf hat es vorhin angesprochen. Menschen, die von einem Einwohner­rück­gang in ihrer Region betroffen sind, fühlen sich gelähmt und sind häufig resigniert. Ich gehe noch weiter. Sie schämen sich, auf dem Land zu leben und fühlen sich defizitär im Vergleich mit dem städti­schen Leben. Kirchen und Kommunen müssen ge­mein­sam die Stärken herausstellen und ein Be­wusst­sein dafür schaffen, was gerade das Um­land für die Ballungsräume leistet. Man denke an die in­takte Natur, die Naherholungs­gebiete für Städter, das Wasser aus dem Vogels­berg für die Frank­furter oder an das Umland als Ausweich­quar­­tier für den Woh­nungsmangel im Ballungsraum. Scherf: Genau, wir müssen die Vorzüge ins Zen­trum rücken. Eine andere Möglichkeit der Koope­ration ist das Projekt DRIN (Dabeisein – Räume entdecken – Initiativ werden – Nachbarschaft leben). Die Kir­chensynode hat im Frühjahr drei Millionen Euro bereitgestellt für Projekte, die das Ziel haben, Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern und Lebensräume lebenswert zu halten. Geför­dert werden sollen Initiativen mit gemein­wesen­orien­tier­tem Ansatz, das heißt, kirchliche und/oder diakonische Einrichtungen sollen gemeinsam mit Kom­munen oder Vereinen darüber nachdenken, was für das Gemeinwesen hilfreich und förderlich sein kann. Auch Kommunen können die Initiative ergreifen und auf kirchliche Einrichtungen zugehen. Das kann in Großstädten ebenso sein, wie in Klein­städten oder Dörfern.  Schelzke: Das ist genau auch unser Ansatz. Wenn ich das richtig verstanden habe, geht es im weite­ren Sinne um die Aktivierung der Bür­ger­schaft. Dafür sagen wir Ihnen unsere volle Unterstützung zu. Fotos: www.amoeneburg.de, H. Giebeler