Perspektiefe 41, Dezember 2016

Solidarität der Verschiedenen – die Kirchen Europas könn(t)en auf gutem Grund Zeichen in und für Europa setzen

SOZIALETISCHER IMPULS: Das nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Weg gebrachte Friedensprojekt EUROPA stecke, so die gegen­wärtige Diagnose, in einer tiefen Krise. Nationale Egoismen bedrohten immer mehr den Zusammenhalt, „europafeindliche Kräfte“ in den Mitgliedsländern gefährden europäische Errungenschaften, die Solidarität unter den Mitgliedstaaten scheint in Erosion begriffen. Dafür gibt es in letzter Zeit viele Anzeichen.

von Oberkirchenrat Pfarrer Christian Schwindt, ZGV Wir müssen dagegen ankämpfen und uns dafür einsetzen, dass Europa weiter zusammenrückt“, fordert daher auch der EU-Parlamentspräsident, Martin Schulz. Schulz sieht hier eine Mitverantwortung der Kirchen – und er hat recht! Denn wenn auch für die europäi­sche Staatengemeinschaft gilt, dass sie von Voraussetzungen (Ressourcen) lebt, die sie selbst nicht hervorbringen, dann wird deutlich, dass das „Zusammenrücken“ nicht (von oben) verordnet werden kann. Nur in alltäglichen Lebens­zusam­men­hän­gen, also in der Zivilgesellschaft, kann dies anschaulich und nachhaltig Gestalt gewinnen. Angesichts der Diagnose, dass die politischen und institutionellen Bindungskräfte in Europa scheinbar immer mehr abnehmen, sind dann aber Bedingun­gen zu schaffen, die das Wachstum einer europäischen Zivilgesellschaft (von unten) weiter befördern. Man könnte das auch die Stärkung „orga­ni­scher Solidarität“ (Emile Dürkheim) nennen. Wir brauchen sie! Denn sie traut weder nationalistischen Großmannssüchten und ihren populistischen Parolen, noch sieht sie das Angewiesensein auf „Andere“ grundsätzlich als Makel bzw. Problem an. Sie ist immer eine „Solidarität der Verschiedenen“.

Natürlich lässt sich Solidarität in einer plural verfassten (Werte-)Gemeinschaft verschiedentlich begründen, etwa im Sinne einer rationalen Einsicht in reziproke Verpflichtungen aus wechselseitiger Verbundenheit. Der christliche Glaube verweist allerdings auf Grund seiner Überzeugung, dass alles „geschaffen“ ist, zunächst völlig sachgemäß auf Gott, den Schöpfer des sichbaren und unsichtbaren Universums. Gott, der Schöpfer, liebt seine Schöpfung und damit auch den Menschen bedingungslos, so die Gute Botschaft. Aus dem Bewusstwerden dieser Gottesliebe kann befreiende Verantwortung zu sich, zu anderen Menschen, zu Gottes ganzer Schöpfung erwachsen. „Befreiung zur Solidarität“ hat das der Theologe Helmut Gollwitzer genannt. Der unsichtbare Schöpfer-Gott, der nach christlichem Verständnis in dem Menschen Jesus sichtbar wurde, befreit den Men­schen davon, nur bei sich sich selbst zu bleiben. Die in vielen biblischen Texten zum Ausdruck kommende Solidarität mit den Schwächsten, die die Reife und Humanität einer Gesellschaft danach bemisst, wie die Teilhabe seiner schwächsten Glieder am gesellschaftlichen Wohlstand ermög­licht ist, gehört daher ebenso dazu wie etwa der Einsatz für Frieden, Rechtssicherheit und die Be­wahrung der Schöpfung.

Als durchaus dynamische Akteure einer lebendigen, pluralen Zivilgesellschaft haben die christlichen Kirchen das Potential, praktische Zeichen zu setzen für gelebte Solidarität im Kleinen (z. B. zu Hause, in der Gemeinde), wie auch im Großen (z. B. Europa). Das tun sie auf vielfältige und zum Teil beeindruckende Weise. Mit Blick auf die Kir­chen Europas und ihren Beitrag zu einem soli­darischen Europa muss sich das Programm der „Befreiung zur Solidarität“ allerdings wohl erst noch weiter schärfen. Erst wenn die Kirchen in Eu­ropa wirklich versöhnen und verbinden, wenn sie die religiösen (und nationalen) Eigenheiten der anderen Kirchen als Gewinn und nicht als Bedrohung erkennen lernen, nur dann können sie ein gutes Beispiel für eine „Solidarität der Verschiedenen“ in der und für die Europäische Gemeinschaft werden. Und diese guten Beispiele braucht die EU bei all den Erosionskräften, die in den vergangenen Mo­naten und Jahren sichtbar geworden sind.