Perspektiefe 42, März 2017

Ein kultureller Wandel zur Nachhaltigkeit - Wie kann das erreicht werden?

HINTERGRUND: Die Erde ist im Zeitalter des Anthropozän angelangt. Die Folgen des menschlichen Einwirkens auf den Planeten sind inzwischen relevanter als die natürlichen Einflüsse der letzten 4,5 Milliarden Jahre. Menschen haben Megatrends ausgelöst, die die Existenz des Planeten gefährden. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen (WBGU) nennt: Klimawandel, Verlust der Ökosystemleistungen durch Abbau der biologischen Vielfalt, Wassermangel, Abnahme der Rohstoffe, Zunahme der Schadstoffe und nicht zuletzt die durch Interaktionen der Bereiche nicht kalkulierbaren Kippunkte des Gesamtsystems. Gelingt es der Menschheit, das Leben innerhalb der planetarischen Grenzen zu organisieren? Das ist die Frage.

von Dr. Wolfram Stierle, Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

Wir haben den „Aufgang“ der Erde vor Augen, wie er sich Ende der 1960er Jahre den Apollo-Astronauten aus 45.000 km Entfernung bot: Eine verletzliche „blue marble“ vor der Weite des Weltraums. Seit Anfang der 1990er Jahre kennen wir die Bilder der Raumsonde Voyager 1: Unsere Milchstraße als eines von ungezählten Sternsystemen, in ihr ist die Erde ein kleiner Planet am Rande eines kleinen Planetensystems, eine kaum auszumachende Existenz in unverständlichen Weiten. Wen interessiert das Schicksal eines Flecks in der All-Peripherie? Mit Weltkonferenzen hat sich die Staatengemeinschaft seit Rio 1992 auf den Weg zur Nachhaltigkeit gemacht. 2015 sind mit der Pariser Klimakonferenz und dem Gipfel der Vereinten Nationen (UN) „Transforming the World“-Fortschritte markiert. Klar wurde: Transformation braucht kulturellen Wandel, denn die Werte- und Handlungssysteme sind entscheidend. Angestoßen durch die Agenda 2030 der UN mit ihren 17 Zielen und 5 Ps (People, Planet, Prosperity, Peace, Partnership) erweist sich die Frage nach einer Kultur der Nachhaltigkeit heute als so wichtig wie offen. Zwei Pole markieren das weite Feld der konkreten Ansätze, der Tauschringe, Genossenschaften und Stadtgärten, der Aufmerksamkeit, Suffizienz und Gemeingüter, der Nutzungsinnovationen, Resilienzgemeinschaften oder des fairen Konsums. Der eine Pol ist die Frage nach dem, was uns orientiert; der andere die Frage nach den institutionellen Strukturen der Nachhaltigkeit. Die grundlegenden Fragen sind wahrlich grundlegend. „Sapere aude!“ – „wage Nachhaltigkeitswissen!“ muss man mit dem Pathos der Aufklärer sagen. Wir kommen aus einem ökonomisch imprägnierten Denken, das zur Bewältigung der komplexen Wirklichkeit auf ein im Idealfall alle Externalisierungen internalisierendes Preissystem setzt. Bonmots, wonach es Leute gebe, die von allem den Preis und von nichts den Wert kennen, liegen nahe. Auffallend ist, wie neuerdings eigenständiges Wissen betont wird. Dass die ideale Institution des Marktes mehr Tatsachenwissen als irgendein Mensch oder eine Organisation generiere und sinnvoll nutze, das ist nicht erst seit der Bankenkrise empirisch fragwürdig.

Wetterleuchten der Transformationskultur Wir kommen auch aus einer ökonomisch geprägten Hochschätzung des Wettbewerbs. Zunehmend wird als Erfolgsfaktor der menschlichen Spezies, aber auch die erstaunliche Fähigkeit zur Kooperation gewürdigt. Ökonominnen wie Marianna Mazzucato („Das Kapital des Staates. Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum“) oder Elinor Ostrom mit ihren Forschungen zu gemeinschaftlichen Nutzungsformen und Gemeingütern sorgen für Unruhe in der auf Konkurrenz setzenden Zunft. Karl Polanyi hatte die Große Transformation der Menschheit als Entgrenzung des Preis- und Marktkalküls beschrieben, um das herum sich Politik und Gesellschaft immer mehr organisiert haben. In der Rückbesinnung auf diese Analysen wird vom WBGU, aber auch im Rahmen des Reformationsgedenkens, versucht, die Transformation zur Nachhaltigkeit neu zu konzipieren. Unüberhörbar ist die Frage nach einer vom Marktkalkül kategorisch abgetrennten Grundhaltung prägend geworden für die Enzyklika „Laudato si“. Kurzum: Wir erleben ein Wetterleuchten der Transformationskultur.

Nachhaltigkeit braucht Strukturen So sehr kulturelle Nachhaltigkeit die Haltung eines „Sapere aude“ braucht, so wenig kann sie auf konkrete Institutionen, Verfahren und Strukturen verzichten. Und auch hier tut sich ein Feld auf, dessen Strukturen erst im Entstehen sind. Als „erste Sahne“ (Klaus Töpfer) gilt die Architektur der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Zentrale Gremien sind der Staatssekretärsausschuss, der parlamentarische Beirat und der Rat für Nachhaltige Entwicklung. Alle Ressorts sind für ihre Beiträge zuständig; das Kanzleramt hat die Federführung. In den kommenden Jahren wird es sich lohnen, das System der Indikatoren im Blick zu behalten, dessen Wettersymbole einen schnellen Überblick ermöglichen und die nicht eitel Sonnenschein abbilden – gerade bei den Kippunkten des Erdsystems. Wichtig ist die seit 2009 bestehende Pflicht zur Nachhaltigkeitsprüfung bei Gesetzentwürfen oder die Reform des Vergaberechts, das seit 2016 ermöglicht, bei der öffentlichen Beschaffung nicht nur auf den Preis, sondern auch auf die Nachhaltigkeit zu achten. Die von der Zivilgesellschaft oft kritisierte mangelnde Ressortkohärenz in der Nachhaltigkeitspolitik führte zu dem Beschluss, dass die Ministerien noch vor den Wahlen im September 2017 Koordinatoren für nachhaltige Entwicklung benennen müssen. Entscheidend für die Umsetzung der Agenda 2030 ist bei etwa zwei Drittel der Maßnahmen die Ebene der Länder und Kommunen. Elf Länder haben oder erarbeiten ihre Strategien, das BMZ unterstützt die Kommunen mit der „Servicestelle Kommunen in der Einen Welt“, es fördert ca. 160 kommunale Partnerschaften mit 260 Projekten, und etwa 30 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister tauschen sich zu ihren Initiativen aus. Der Nachhaltigkeitsrat plant mit der Errichtung regionaler Netzstellen (RENN), all diese Aktivitäten bis in fünf Jahren zu vernetzen. Der Charme dieser in Kooperation mit der Zivilgesellschaft vorangebrachten und hier nicht annähernd umfassend abgebildeten kommunalen und urbanen Koalitionen liegt darin, dass man für nachhaltige Politik Strukturen braucht, aber auch nicht warten kann, bis sie da sind. Hier gibt es noch viel zu entdecken und zu schaffen – übrigens nicht zuletzt, wenn es in Schule und Konfirmationsunterricht um eine Bildung der Nachhaltigkeit geht, die mit den 17 Zielen der Agenda 2030 arbeitet und „transformative literacy“ schafft (siehe auch Seite 4).

Kultureller Wandel ist gemeinsame Aufgabe Natürlich gibt es auch Rückschläge, und zu hinderlichen Strukturen zählen auch Einflüsse von Lobbyisten – wie sie etwa von NGOs beim Nationalen Aktionsplan Menschenrechte, bei Rüstungsexporten oder in der Agrarpolitik beklagt werden. Ausführlich wird in den kommenden Jahren zu fokussieren sein, wie die UN, die EU oder die G20 sich im Blick auf Strukturen der Nachhaltigkeit aufstellen. Während in der EU an einem „EU-Entwicklungskonsens“ gearbeitet wird, der sich zur Agenda 2030 bekennt, bewegt sich auf der Homepage des für Entwicklungspolitik zuständigen Kommissars Mimica nichts. Die EKD hat sich die Forderung nach einem „Weltrat für soziale, ökologische und wirtschaftliche Fragen“ zu eigen gemacht. Vielleicht ist derzeit am meisten Bewegung beim Klub der G20. Die deutsche Präsidentschaft kann hier auf Vorarbeiten Chinas aufbauen, das unter seiner Präsidentschaft von allen verlangt hat, zusammenzutragen, was sie jeweils tun. Beim G20-Gipfel in Hamburg soll nun der Fokus auf die kollektiven Maßnahmen zur Umsetzung der Agenda 2030 durch die G20 gelegt werden. www.bmz.de

Ziele für nachhaltige Entwicklung. Eine Auswahl:
www.bmz.de/de/ministerium/ziele/2030_agenda/17_ziele/index.html www.un.org/sustainabledevelopment/sustainable-development-goals