Perspektiefe 44, Dezember 2017

Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft

HINTERGRUND: Die Soziale Marktwirtschaft war eine Episode in der Geschichte der marktwirtschaftlichen Entwicklung. Sie herrschte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis etwa Ende der 1970er Jahre. Und zwar überall in der entwickelten Welt, in den USA („New Deal“, „Great Society“) ebenso wie in Deutschland („Rheinischer Kapitalismus“).

von PD Dr. Ulrich Thielemann, Me’M Denkfabrik für Wirtschaftsethik, Berlin
„Der Rentabilitäts­extremismus, der sich über den Wettbewerb fortpflanzt, sorgt im Verein mit dem Abbau der sozialen Siche­rungssysteme da­für, dass Beschäftigungen und Beschäfti­gungs­aussichten prekär werden.“
PD Dr. Ulrich Thielemann

Was war die Soziale Marktwirtschaft?

Diese Marktwirtschaft war geprägt von einer breiten Teilhabe an einem zugleich hohen Wachs­tum. Es ist die Zeit der „great compression“, der Verringerung vormaliger Einkom­mensdisparitäten und Vermögenskonzentratio­nen. Tiefe Einkommen wuchsen stärker als hohe Ein­­kommen. Auch Be­schäf­­tigte mit mittleren Quali­fikationen verdienten gut. An­stel­lun­gen waren stabil, bo­ten Aufstiegs­chancen und gaben ein Gefühl der Sicherheit. Bewirkt wurde all dies durch ein komplexes Geflecht von Regulierungen einerseits, die Etablie­rung und den Ausbau so­zialer Sicherungs­sys­te­me andererseits. Regulierungen zähmen stets die Ent­faltung der Marktdynamik. Das Institut des Arbeitsrechts etwa wirkt mäßigend. Wer die Ar­beits­leistungen eines anderen dauerhaft nutzen möchte, unterliegt gewissen Restriktionen, etwa bezüglich der Arbeitszeit, der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und des Kündigungsschutzes. Zugleich waren die globalen Märkte nicht einfach offen. Dies gab Unternehmern und Managern Spielräume, die sie vielfach verantwortungsvoll nutzten. Der vorherrschende Geist war der des Ausgleichs zwischen anerkannt konfligierenden Ansprüchen. Das Wirtschaften war, zumindest ansatzweise, in gesellschaftliche Werte der Fairness und Sinnhaftigkeit „eingebettet“ (Karl Polanyi, Wilhelm Röpke).

Das Regime des Neoliberalismus

Mit der neoliberalen Revolution, die um das Jahr 1980 praktisch überall einsetzte, nahm all dies ein schleichendes Ende. Die Marktlogik soll nun in allen Lebenslagen regieren. Die vormals aufgebauten Marktregulierungen sollen abgebaut oder marktkonform ausgerichtet werden. Weil das
Ka­pital ja nun einmal die Arbeitsplätze schaffe, sei es zu „hofieren“ (Hans-Werner Sinn). Entspre­chend stieg nicht nur der Anteil der Kapitalein­kommen an der volkswirtschaftlichen Wert­schöp­fung, auch die Vermögen wuchsen gegenüber der Wirt­schafts­leistung weit überproportional an und fielen vor allem dem obersten einen Prozent zu. Auch innerhalb der Gruppe der abhängig Be­schäf­­tigten nahm die Polarisierung der Ein­kom­men zu. Der Anteil mittlerer Einkommen sinkt über­all. Neue Beschäftigungen sind entweder sehr hoch oder sehr tief vergütet. Innerhalb der Unternehmen hat sich der Geist der Mäßigung und des Ausgleichs zugunsten eines Rentabilitätsextremismus verflüchtigt. Unter­nehmen sind mit jeder Faser ihres Tuns auf die Maximierung des Shareholder-Value auszurichten. Gegenüber gesellschaftlichen Ansprü­chen verhalten sich Unternehmen, jedenfalls im Großen und Ganzen, konsequent opportunistisch. Im Öko­no­miestudium wird dem Nachwuchs mit wissenschaftlicher Auto­ri­tät vermittelt, dass alles andere irrational wäre. Moralität wird zu einer Präferenz neben anderen herabgestuft. Der Ren­tabilitäts­extremismus, der sich über den Wettbewerb fortpflanzt, sorgt im Ver­ein mit dem Abbau der sozialen Siche­rungs­systeme da­für, dass Be­schäftigungen und Beschäfti­gungs­aussichten prekär werden. Statusangst geht um. Da von den Unternehmen Mäßigung nicht zu erwarten ist und die sozialen Sicherungssysteme die Folgen der Marktdynamik in weitaus geringerem Umfang abfedern als zuvor, sehen sich die Beschäftigten auf sich selbst zurückgeworfen. Es gilt nun, das Leben im Ganzen „eigenverantwortlich“ als dauernde Investition ins eigene „Hu­man­kapital“ zu begreifen. Und zwar möglichst vorausschauend, um das Risiko eines möglichen Ab­sturzes gering zu halten. Bildung wird daher in Human­kapital­bildung transformiert. Zur politisch betriebenen Ökonomisierung der Lebensver­hält­nisse durch Privatisierung und Deregulierung gesellt sich die scheinbar selbst initiierte Ökonomi­sierung der eigenen Lebensführung. Wettbe­werbs­­­fähigkeit wird zum Leitstern aller Lebensbezüge. Wettbewerbsfähigkeit wird auch zum Leitstern aller Politik. Die „marktkonforme Demokratie“ gibt ihre politische Freiheit auf zugunsten eines bereits vorentschiedenen Ziels: der Wettbewerbsfähigkeit des zum „Standort“ degradierten Gemeinwesens. Einem Unternehmen gleich sucht der Wettbe­werbs­­staat sich attraktiv für das global zirku­lierende, stets abwanderungsbereite Kapital zu machen und möglichst viel Kaufkraft von anderen Stand­orten abzuzweigen. Dies ist Deutschland in besonderem Maße gelungen. Da die Kaufkraft im eigenen Lande aufgrund der „Lohnmoderation“ und des ausgebauten Niedriglohnsektors nur unzureichend verfügbar ist, sucht man sie im Aus­land, in welches Arbeitslosigkeit exportiert wird. Die dauernden Leistungsbilanzüberschüsse bedeuten, dass sich das Ausland gegenüber Deutsch­land verschulden muss, will es nicht schrumpfen. Zwar haben sich in Deutschland die Einkommens­disparitäten seit 2005 nicht weiter verschärft. Dies allerdings auf Kosten des Aus­landes.

Zähmung und Abfederung

Jenseits der buchstäblich unvorstellbaren Vision der Abwesenheit von Marktinteraktionen gibt es zum neoliberalen Programm der Transformation der Gesellschaft in eine Marktgesellschaft nur eine Al­ter­native: Die einer Sozialen Markt­wirt­schaft, wie diese auch immer im Einzelnen auszugestalten wäre. Sie basiert im Kern auf den beiden Pfei­lern der Zähmung der Marktdynamik einerseits, der verteilungspolitischen Abmilderung ihrer Folgen andererseits. Zur Zäh­mung und Zivilisie­rung der Marktinteraktions­verhältnisse gehört auch die Entwicklung und Pflege einer Wirt­schafts­kultur der Mäßigung und der Fairness im Umgang miteinander. Erste Voraussetzung einer Revita­li­sie­rung der Sozialen Marktwirtschaft ist die Delegitimation des Ökonomismus, also der Rechtfertigung der Herrschaft des Marktprinzips, die die Wirtschafts­fakul­täten nach wie vor durchdringt. Dies ist bedeutsam, weil hier die Experten aus­gebildet werden, die in Wirtschaft und Po­litik letztlich das Sagen haben. Wissen­schaftspolitisch ginge es um die Eta­­blie­rung echter Pluralität innerhalb der Wirt­schaftswissenschaften. Zu den Kernfragen der Renaissance einer Sozialen Marktwirtschaft zählt das Mischungs­verhältnis zwischen Umver­­teilung und Regulie­rung. Wenn allein auf Maß­­nahmen der Umvertei­lung bzw. den Ausbau der so­zia­­len Sicherung gesetzt wird, der Markt­dyna­mik aber ansonsten weiterhin freier Lauf gelassen wird, so wird der wachsende Wettbewerbsdruck zwar einerseits in seinen Folgen für die Betrof­­fenen abgemildert. Andererseits sorgen Steuer­wett­bewerb und Ka­pitalverkehrsfreiheit dafür, dass die Finanzierungs­grundlage für den Ausbau sozialer Sicherungs­systeme fraglich wird. Zudem können diese Maßnahmen wie ein Konjunktur­programm für das Ausland wirken, sodass die Finan­zie­rungs­basis weiter erodiert. Dies ist ja auch der Grund, warum praktisch alle etablierten politischen Kräfte das neoliberale Pro­gramm der Ho­fierung des Kapitals und der Eta­blie­rung eines Wettbe­werbs­staates für alternativlos halten. Vieles spricht dafür, dass eine Wieder­belebung der Sozialen Marktwirtschaft mit vollständig offenen Märkten nicht zu haben ist. Über jeder nicht „marktkonformen“ Regulierung schwebt ja das Da­mo­klesschwert des Abzugs des Kapitals und der Verdrängung der jeweils einheimischen Be­schäftigungen durch die Import­konkurrenz. Einen Ausweg böten global koordinierte wettbewerbliche Waffenstill­standsabkommen und ein Ende des Welt­wirtschaftskrieges um die Kaufkraft dieser Welt. Erst danach gewännen die jeweiligen Nationalstaaten das nötige Maß an Souveränität zurück, um das Ausmaß, in dem die Marktlogik herrschen soll, demokratisch-autonom zu be­stimmen.