Perspektiefe 44, Dezember 2017

Es geht nur gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern: Was eine Kommune trotz knapper finanzieller Ressourcen tun kann, um einen sozialen Ausgleich sicherzustellen

BEISPIEL: Die mittelhessische Universitätsstadt Gießen leidet seit vielen Jahrzehnten unter einer „chronischen Krankheit“. Ihre eigene Steuerkraft ist angesichts der vorwiegend großen sozialen Herausforderungen aufgrund ihrer sehr heterogenen Einwohnerstruktur zu gering, um sich aus eigener Kraft zu nähren. Außerdem hat Gießen wenige große Gewerbebetriebe und viele öffentliche Institutionen, – Hochschulen, Gerichte, Behörden –, sodass die Steuereinnahmen im Vergleich zu gleichgroßen Städten gering sind.

von Dietlind Grabe-Bolz, Oberbürgermeisterin Gießen
„Gießen … ist immer bestrebt, Lasten auf viele Schultern gleichmäßig und gerecht zu verteilen.“ Dietlind Grabe-Bolz

Gießen hat mit 37 Prozent die geringste Quote an Steuereinnahmen unter allen hessischen Sonderstatusstädten. Viele Men­schen sind auf Hilfen und Unterstützung angewiesen. Das hat zur Folge: Gießen ist dauerhaft und verlässlich auf Finanzhilfen des Landes zum Ausgleich angewiesen. Und die Finanzhilfen sind immer wieder zurückgegangen. 2011 wurden die entsprechenden Hessen-Mittel für den Finanzausgleich zwischen den Kommunen um 344 Mio. Euro gekürzt! Als im Jahre 2012 das Land mittels des Schutz­­schirm-Gesetzes im Gegenzug auch auf Gießen zukam und Finanzspritzen unter starken Auflagen versprach, waren wir angesichts eines Defizits im Ergebnishaushalt von rund 26 Mio. Euro und bestehenden Investitionskrediten in Höhe von rund 222,9 Mio. Euro quasi gezwungen, diese Hilfen anzunehmen. Aber eigentlich wollten wir nicht durch einen von oben verordneten Sparkurs als Gegenleistung zu den kurzfristigen Finanzhilfen dazu gezwungen werden, lebenswichtige und für das soziale Miteinander notwendige Leistungen und Einrichtungen einzuschränken oder gar zu beenden. In einer repräsentativen Umfrage vor dem Beitritt zum Schutzschirm befragten wir die Einwohner Gießens, was für sie unverzichtbar ist und wo sie ggf. Einschnitte hinnehmen würden. Es zeigte sich, dass es gerade bei Ausgaben für ein soziales Miteinander, in der Unterstützung Hilfs­bedürftiger, aber auch in der Bildung, im Sport, bei der kulturellen Infrastruktur (z. B. Stadt­theater) keine Einschnitte geben sollte. Die Gie­ße­nerinnen und Gießener wollen auf ihr soziales und städtisches Leben nicht verzichten. Das nahmen wir als Handlungsauftrag in die Verhandlungen um die Ausgestaltung des Kon­soli­dierungsprogramms im Rahmen des Schutz­schirms mit dem Land mit. Und das Ergebnis war: Keine Leistungen wurden eingeschränkt und Ein­richtungen geschlossen. Im Gegenteil, wir haben sogar nochmals stark in die Infrastruktur und die Lebensqualität der Stadt investiert. Im Zuge der Landesgarten­schau wurden Bereiche der Stadt am Fluss und in unserem „Bürgerpark Wieseck­aue“ attraktiver gemacht – das zahlt sich bis heute aus. Die Men­schen nutzen diese neuen Stadt­gebiete für ihre Freizeit. Und Gießen gewinnt an Einwohnerinnen und Einwohnern und damit an Steuerkraft. Gießen hat trotz Schutzschirm an Attraktivität gewonnen und ist immer bestrebt, Lasten auf vielen Schul­tern gleichmäßig und gerecht zu verteilen. Dazu gehört leider auch, dass wir uns schweren Her­zens dafür entscheiden muss­ten, die Grundsteuer stark zu erhöhen, und dadurch einen Solidaritäts­beitrag aller Gieße­nerinnen und Gießener für das Wohlergehen unserer Stadt und die berechtigten Wünsche an eine attraktive Heimat einforderten.

Meines Erachtens hat dies ein Großteil unserer Bürgerinnen und Bürger akzeptiert – vielleicht, weil wir sehr offensiv und transparent mit unseren Entschei­dungszwängen umgegangen sind und sie stets auf diesem Weg beteiligt haben. Heute – nach fünf Jahren unter dem Schutz­schirm – schauen wir auf vier ausgeglichene Haus­haltsjahre zurück und hoffen, dass wir frühzeitig aus dem Vertrag aussteigen und wieder mehr Ge­staltungsspielraum und damit kommunale Selbst­bestimmung erreichen können ohne den golde­nen Zügel des Landes.