Perspektiefe 44, Dezember 2017

„Marktwirtschaft ist nicht genug“: Die Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft aus theologischer Perspektive

IMPULS: „Marktwirtschaft ist nicht genug“ lautet der Titel eines Bandes mit Aufsätzen aus der Feder von Wilhelm Röpke, einem der geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft. Der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ selbst ist eine glückliche Prägung von Alfred Müller-Armack, die er erstmals in seiner Schrift „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ aus dem Jahre 1946 verwendete.

von Pfarrer Dr. Ralf Stroh, Referat Wirtschaft und Finanzpolitik, ZGV
„Das Leben unverkürzt wahrnehmen, wie es wirklich gelebt wird, und sich seiner kom­plexen Vielfalt ohne Scheu zuwenden, ist seit jeher der Anspruch und die Herausforde­rung reformatorischer Theologie.“ Dr. Ralf Stroh


Müller-Armack und Röpke verband mit einer Reihe von Zeitgenossen die Gewiss­heit, dass eine verantwortungsvolle und menschengemäße Gestaltung des Wirtschafts­lebens nur möglich ist, wenn man diesen einzelnen Sektor in das Gesamte der menschlichen Lebensbezüge einzeichnet und von daher zu verstehen sucht. Exemplarisch dafür, wie selbstverständlich es für die Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft war, den Bereich der Wirtschaft und sein sach­gemäßes Verständnis nicht den Ökonomen allein zu überlassen – und die Ökonomen vom Fach an diesem Sachverhalt keinerlei Anstoß nahmen –, ist die personelle Zusammensetzung der Frei­burger Kreise, die ebenfalls die Konzeption der So­zia­len Markt­wirt­schaft ent­wer­fen halfen. Na­tio­­nal­­öko­­­nomen und Ju­ris­ten, Theo­lo­gen und Historiker überlegten gemeinsam, auf welche Weise das ge­sell­schaft­liche Leben nach dem absehbaren Zu­sam­menbruch des natio­­nal­­sozialistischen Sys­­tems so organisiert wer­den kann, dass in ihm Men­schen ihr Zu­sam­men­leben frei und verantwortlich gestalten können. So wurde etwa die Programmschrift „Politi­sche Gemeinschaftsordnung: ein Versuch zur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischen Nöten unserer Zeit“ eines dieser Freiburger Kreise aus dem Januar 1943 von der Leitung der Bekennenden Kirche unter Vermittlung durch Dietrich Bonhoeffer initiiert und maßgeblich von dem Historiker Gerhard Ritter verfasst. Als Anlage 4 wurde dieser Schrift der Abschnitt „Wirtschafts- und Sozialordnung“ beigefügt und von den Ökonomen Constantin von Dietze, Walter Eucken und Adolf Lampe verantwortet. Diese Verortung als Anlage markiert mehr als deutlich das Selbstverständnis der Autoren: „Wirtschafts- und Sozialordnung“ sind eingegliedert in ein umfassendes Ganzes, das sich nicht auf ökonomi­sche Kategorien reduzieren lässt.

Der Markt als Teil der sozialen Welt

Vor diesem Hintergrund erhalten der Titel des Aufsatzbandes von Röpke – „Marktwirtschaft ist nicht genug“ – und die Auszeichnung der angestrebten Form der Marktwirtschaft durch Müller-Armack als einer Sozialen Marktwirtschaft ihre besondere Pointe. Es geht nicht um eine additive Ergänzung der Marktwirtschaft um wei­tere As­pekte, die ihr an sich äußerlich sind. Wäre dem so, dann hätten die Vorbehalte Friedrich August von Hayeks gegenüber dem Adjektiv „sozial“ ihre Berechtigung, dass mit dieser Bei­fügung ohne innere Begrün­dung die Inte­ressen bestimmter Gruppen einen morali­schen Anstrich erhalten sollen, der kritische Rück­fragen diskreditiert. Ausdrücklich teilt jedoch von Hayek das sachliche Anliegen Müller-Armacks, das dieser mit dem Begriff Soziale Marktwirtschaft verbindet, auch wenn er den gewählten Begriff für missverständlich – weil nichtssagend und zur beliebigen Füllung einladend – hält. Tatsächlich gibt es auch zuweilen eine Bezugnahme auf die So­ziale Marktwirtschaft, bei der dieser Vorwurf von Hayeks naheliegt. Ganz anders verhält es sich dagegen mit der hier vorgeschlagenen Lesart. Die Charakterisie­rung der Marktwirtschaft als Soziale Marktwirt­schaft fügt ihr nicht etwas hinzu, sondern macht explizit, was ihr immer schon wesentlich ist: nämlich ein Aspekt der sozialen Welt zu sein. In diesem Sinne trifft diesen Ausdruck zwar durchaus die Ein­schät­zung von Hayeks, ein Pleonasmus („weißer Schim­mel“) zu sein, der nichts aussagt, was nicht schon im Wort Marktwirtschaft enthalten ist. Aller­dings handelt es sich in diesem Fall – anders als von Hayek meint – nicht um einen überflüssigen, sondern um einen sachlich gebotenen Pleonasmus. Die Möglichkeit, die konstitutiven Aspekte menschlichen Lebens zum Zweck der konzentrierten Besinnung auch je für sich zu betrachten, führt nämlich fast unvermeidlich dazu, diese methodische Isolierung unbemerkt in eine sachliche Verabsolutierung hinübergleiten zu lassen. Das Leben ist auf einmal nichts anderes mehr als ein ökonomisches Phänomen und alle Herausforde­rungen des Lebens lassen sich scheinbar mit den Mitteln der Ökonomie – und nur mit ihren Mitteln –bearbeiten. Das Bemühen, um eine immer realitätsnähere Kenntnis der Zusammenhänge des menschlichen Lebens durch konzentrierte Be­trachtung einzelner Aspekte desselben, wird so zu einer immer realitätsferneren Reduktion menschlicher Erfahrungswirklichkeit. Dieser simplifizierenden Reduktion begegnet die Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft. Der Einbettung der Marktwirtschaft in das komplexe Gefüge der menschlichen Lebensbezüge entsprechen nur solche marktwirtschaftlichen Instru­mente, die als ökonomische Instrumente zugleich die gesamte Existenz des Menschen im Blick haben und ihr gerecht werden.

Der Markt als Thema der Kirche

Es ist diese Einsicht, auf die das Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland unter dem Titel „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ (1997) folgendermaßen hinweist:
„Analysen gesellschaftlicher Herausforde­run­gen setzen bestimmte Kriterien der Wahrnehmung voraus und schließen anthropologische und ethische Vorentscheidungen ein. Ebenso gründet die Soziale Marktwirtschaft auf anthropologischen und ethischen Vorentscheidungen. Sie geht aus von einem Menschenbild, das Freiheit und persönliche Verantwortung wie Solidarität und soziale Verpflichtung beinhaltet. Insofern beruht die So­ziale Marktwirtschaft auf Voraussetzungen, welche sie selbst nicht herstellen und auch nicht garantieren kann, ohne die sie aber auf Dauer nicht lebensfähig ist. Gerade in der gegenwärtigen Situa­tion eines tiefgreifenden Umbruchs muß an diese Voraussetzungen erinnert werden, weil allein so Kräfte für die Vision wie für die Motivation erwachsen können, angesichts der neuen Herausforde­rungen das Leitbild einer solidarischen und gerechten Gesellschaft zu verwirklichen“ (S. 40). Auch die seit jenem gemeinsamen Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen Lage aus dem Jahr 1997 in zahlreichen Äußerungen sich findenden Wendungen „ökosoziale Marktwirtschaft“ (z. B. Unternehmerisches Handeln in evangelischer Per­spektive, 2008) oder „sozial, ökologisch und global verpflichtete Marktwirtschaft“ (z. B. Wie ein Riss in einer hohen Mauer, 2009) lassen sich als nicht überflüssige, sondern sachlich gebotene Pleonasmen verstehen, in denen auf unhintergehbare Bedingungen des Wirtschaftens im und am Markt hingewiesen wird. Diese Bedingungen treten zum menschlichen Wirtschaften nicht äußerlich hinzu, sondern sind wesentliche Aspekte seiner Praxis. Mit der sprachlichen Hervorhebung jener konstitutiven Momente menschlichen Wirt­schaftens sind noch keine konkreten Maßnahmen abgeleitet. Aber es sind Aspekte benannt, denen konkrete Maßnahmen genügen müssen, sollen sie der gelebten Wirklichkeit gerecht werden. Das Leben unverkürzt wahrnehmen, wie es wirk­lich gelebt wird, und sich seiner komplexen Vielfalt ohne Scheu zuwenden, ist seit jeher der An­spruch und die Herausforderung reformatori­scher Theologie. Sie handelt nicht von einem imaginier­ten Jenseits, sondern nimmt die erlebte Wirk­lichkeit des Menschen ernst. Die Theologie ist eine Er­fah­rungswissenschaft. Nicht zuletzt galt für Luther: „Sola experientia facit theologum“ (Allein die Er­fah­­rung macht den Theologen). Auf diesen Grund­satz in allen Bereichen menschlicher Praxis und be­son­ders der Gestaltung unseres Wirt­schaf­tens hinzuweisen, ist eine Weise, wie evangelische Kir­che gesellschaftliche Verantwortung wahrnimmt.