Perspektiefe 45, März 2018

Mehr zweckfreie Zeit! Für die Lebensphase Jugend sind Freiräume zur selbst­bestimmten Gestaltung und zum Experimentieren essenziell – ein Zwischenruf

HINTERGRUND: Der Begriff Freiräume nimmt im 15. Kinder- und Jugendbericht (KJB) eine prominente Stellung ein: „Zwischen Freiräumen, Familie, Ganztagsschule und virtuellen Welten – Persönlichkeitsentwicklung und Bildungsanspruch im Jugendalter“ lautet der Titel des Berichts. Man könnte den Eindruck gewinnen, Freiräume seien Räume wie alle anderen: klar identifizierbar, abgrenzbar, optimierbar, schaffbar. Tatsächlich sind Freiräume das gerade nicht, was es umso schwieriger macht, sie sicherzustellen. 

von Stephan Groschwitz, Mitglied der Sachverständigenkommission des 15. Kinder- und Jugendberichts
„Die Gesellschaft und ganz besonders die Poli­tik und die Institu­tionen des Aufwach­sens sollten gegenüber Jugendlichen und ihren Frei­räumen eine Kultur der Zurückhaltung ent­wickeln. Gleichzeitig ist es aber notwendig, dass Jugend­liche beim Ringen um Freiräume unterstützt und deren Potenziale zur gesell­schaftlichen Erneue­rung entdeckt werden.“ 
Stephan Groschwitz
Der Deutsche Bundesjugendring (DBJR) definiert Freiräume zum Beispiel anhand von Negationen: Freiräume dienen keinem bestimmten Zweck und unterliegen keinem Nutzen. Sie sind also jene anderen, sonstigen Räume und Zeiten, die jenseits klarer Funktionszuweisungen und fester Regeln existieren. Im 15. Kinder- und Jugendbericht (KJB) wird Freiraum allgemein als das bezeichnet, „was relative Freiheit von Struk­turierung und Defi­ni­tion ermöglicht“ (Deut­scher Bun­destag 2017, S. 422). Diese relativen „Ge­gen­welten“ (Deut­scher Bundestag 2017, S. 423) können, wie der Bericht betont, individuell sehr unterschiedlich sein. „In solchen, von Einflüssen der Alltagswelt graduell geschützten, Räu­men lassen sich daher auch zugespitztere Er­probungen und Gegenentwürfe von Selbstbestim­mung und Selbst­positionierung entwickeln, als sie im Alltagsleben Jugendlicher allgemein möglich sind“ (ebd.). Freiräume spielen also für junge Menschen – aber nicht nur für sie – eine besondere Rolle. Für die Lebensphase Jugend sind sie zur selbstbestimmten Gestaltung und zum Experimentieren essen­ziell. Allerdings sind sie in der heutigen Ge­sell­schaft keinesfalls gesichert, vielmehr drohen sie zur Seltenheit zu werden angesichts der zu­neh­men­den Zeit, die junge Menschen in Insti­tu­tionen verbringen, sowie der steigenden Anfor­de­rungen in einer immer komplexer werdenden Welt und einer überwältigenden Vielfalt an Op­tionen für Lebens­entwürfe.  Die Sachverständigenkommission des 15. KJB hat Jugend als „Integrationsmodus moderner Ge­sell­schaften“ beschrieben, in dessen Mittel­punkt die Bewältigung der drei Kernheraus­forde­run­gen Ver­selbst­stän­di­gung, Selbst­po­si­tio­nie­rung und Qua­li­fi­zie­rung stehen (Deut­scher Bun­destag 2017, S. 95 ff.). Damit nennt die Kom­­mission die He­raus­forderungen, mit denen sich junge Men­schen heute im Pro­zess des Erwachsen­werdens konfrontiert sehen, und verweist gleichzeitig auf die Rolle der vielfältigen Institutionen des Auf­wach­sens. Deren Bedeutung nimmt angesichts der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung und der wach­senden individuellen Anforderungen zu, was letztlich dazu führt, dass Jugendliche immer mehr Zeit in vorgegebenen Strukturen verbringen. Da­bei braucht die Bewältigung der Kernheraus­for­de­run­gen nicht nur Anpassung an und Über­nahme von vorgegebenen Lösungen, sondern vielmehr ein kreatives Ausprobieren, insbesondere im Pro­zess der Verselbstständigung und Selbst­posi­tionierung.  Es sollte also nicht überraschen, dass insbesondere Jugendliche in einer insgesamt an Frei­räumen ärmer werdenden Gesellschaft spezifi­sche Spannungen erleben und sich wünschen, mehr Zeiten und Räume autonom und ohne Verwer­tungsdruck gestalten zu können.  Nur angerissen wird im 15. KJB (notwendigerweise), vor welchen Schwierigkeiten und Heraus­forderungen die Ge­samtgesellschaft in ihrer derzeitigen Ent­wick­lung steht und welche Konse­quenzen dies für ein gelingendes Aufwachsen hat. Die zunehmende gesellschaftliche Spaltung, weltweit wieder aufkeimen­der Nationalismus und vielfältige Demokratie­defizite sind dabei nur drei der zu nennenden Tendenzen.  Erschwerend kommt hinzu, dass den Jugend­lichen selbst die Deutungshoheit darüber abhan­dengekommen zu sein scheint, was eigentlich „jugendlich“ ist. Alljährlich wird beispielsweise vom Langenscheidt-Verlag das „Jugendwort des Jah­res“ gekürt, das mit den tatsächlichen sprachlichen Gepflogenheiten junger Menschen wenig bis gar nichts zu tun hat. Stattdessen spiegelt es die Vorstellungen der Erwachsenen von Jugend beziehungsweise die Phantasmen der Erwach­senen über die Coolness Jugendlicher. Zugespitzt formuliert, können Jugendliche heute sogar an den Erwartungen der Gesellschaft scheitern, authentisch jugendlich zu sein. Das zeigen zum Beispiel die ritualhaften Reaktionen auf Jugend­studien oder Vorstöße in der Rentendebatte: Mal ist die Jugend nicht pragmatisch, mal nicht re­volutionär genug. 

Schulen und Betreuungseinrichtungen müssen Freiräume respektieren

Vor diesem Hintergrund muss die Frage nach Freiräumen anders gestellt werden: Es geht nicht darum, ob Jugendliche Freiräume brauchen und wie diese zu gestalten sind. Vielmehr ist zu fragen, was das für eine Gesellschaft ist, die die Zeit junger Menschen immer weiter verplant, jedem Raum und jeder Zeit einen Zweck zuordnet und selbst der Forderung nach Freiräumen die Frage entgegnet, welchem Zweck Freiräume dienen sollen. Die Antwort auf diese Frage ist so einfach wie radikal: Freiräume haben keinen Zweck. Das ge­nau macht sie aus, ist ihr Sinn, insbesondere in der Jugend. „Jugend ermöglichen“ heißt deshalb vor allem auch: Freiraum ermöglichen!  Die Lösung liegt wohl darin, dass alle, vor allem aber die pädagogischen Institutionen des Aufwachsens, aktive und passive Selbst­beschrän­kung üben. In Schulen und Betreuungs­einrich­tungen werden freie Zeiten hingegen oft genug als Gelegenheit zur Optimierung genutzt – auch aufgrund des Drucks von Politik, Eltern und Wirt­schaft. Es gilt immer noch etwas zu lernen, einzuüben und zu verbessern. Gefördert wird damit eine individuelle Anpassung an gesellschaftliche Erwartungen und bestehende Systeme – ganz im Sinne des Ideals des hochgradig marktflexiblen, immer unternehmerisch handelnden Subjekts, das in jeder Hinsicht für sich selbst die Verant­wortung übernommen hat.  Die Sachverständigenkommission des 15. KJB plädiert dagegen für Freiräume, in denen junge Menschen eigene Wege finden dürfen, auf gesellschaftliche Bedingungen und Veränderungen zu reagieren. Die Gesellschaft und ganz besonders die Politik und die Institutionen des Aufwachsens sollten gegenüber Jugendlichen und ihren Frei­räumen eine Kultur der Zurückhaltung entwickeln. Gleichzeitig ist es aber notwendig, dass Jugend­liche beim Ringen um Freiräume unterstützt und deren Potenziale zur gesellschaftlichen Erneue­rung entdeckt werden.  Ein gelungenes Beispiel dafür ist die Stärkung der Selbstorganisation in Jugendverbänden. Eben­so kann die Aneignung digitaler Medien den Charakter von solchen Freiräumen annehmen. Wenn Jugendliche sich öffentliche oder kommerzialisierte Räume aneignen, sollten nicht die vermeintlich verschwendeten zeitlichen Ressourcen im Mittelpunkt stehen oder gar die Bedeutung dieser Zeit für die Persönlichkeitsentwicklung oder die Qualifikation junger Menschen. Stattdessen sollte die Neugier darauf zielen, was junge Men­schen mit solchen Räumen und Zeiten anzustellen vermögen. Dieser Beitrag erschien im DJI Impulse, Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2017, Nr. 115