Perspektiefe 48, April 2019

Armut im Alter ist mehr als wenig Geld zu haben

NACHGEFRAGT: Gespräch mit Thilo Becker, Bürgermeister, und Christa Graf, Leiterin des Seniorenbüros der Verbandsgemeinde Höhr-Grenzhausen.

Wie sieht die Situation alter Menschen in der Verbandsgemeinde aus?
Becker: Wir betrachten in Höhr-Grenzhausen die Situation alter Menschen nicht nur unter dem finanziellen Aspekt. Vielmehr geht es uns darum, dass alte Menschen möglichst lange am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können, dass die ärztliche Versorgung sichergestellt wird, dass es Einkaufsmöglichkeiten vor Ort gibt und dass wir etwas gegen die zunehmende Vereinsamung tun. Denn nach meiner Meinung müssen die Menschen, solange sie können, raus aus ihrem Schneckenhaus. Solange die Partner noch leben, ist alles ok, aber sobald sie alleine sind, fehlen Kontakte zu anderen Menschen. Es herrscht Armut an Kommunikation. Und das betrifft nicht nur arme alte Menschen, sondern alle alten Menschen.
Um die Bedürfnisse möglichst gut erfassen zu können, haben wir in der Verbandsgemeinde ein Seniorenbüro eingerichtet, einen Seniorenbeirat gewählt und ein Seniorennetzwerk gegründet.

Graf: Dabei steht der Austausch im Vordergrund. Wir suchen aber auch gemeinsam nach Ideen und überlegen, was besser werden kann. Aus diesem Kreis heraus planen wir regelmäßig einmal jährlich Demenzwochen, um über die Krankheit und die Unterstützungsangebote aufzuklären. Am Anfang ernteten wir dafür Unverständnis, heute, nach dem achten Mal in Folge, ist es ein wichtiger Baustein unserer Seniorenarbeit.

Was haben Sie schon angestoßen und was haben Sie noch vor?
Becker: Viele alte Menschen sind nur noch eingeschränkt mobil. Für diese entwickelten wir das BürgerMobil. Es fährt an zwei Tagen in der Woche, dienstags und donnerstags, und wird toll nachgefragt. Wir bieten den Leuten sozusagen „Individualverkehr“ an. Sie werden an der Haustür abgeholt und beispielsweise zum Einkaufen, zum Arzt, ins Café oder zum Friseur gefahren und auch wieder abgeholt. Wir arbeiten mit den Arztpraxen zusammen. Wenn sie wissen, dass ein Patient mit dem BürgerMobil gekommen ist, achten sie darauf, dass die Termine möglichst eingehalten werden. Das BürgerMobil ist kostenlos und fährt innerhalb der Verbandsgemeinde Höhr-Grenzhausen.
Etwas Ähnliches gibt es in Hillscheid, das sogenannte Cap-Mobil. Es fährt jeden Freitag und wird von der Bürgergemeinschaft MachMit in Kooperation mit dem örtlichen Cap-Markt organisiert (www.cap-markt.de/ueber-uns/cap-konzept).
Einen Fahrdienst über die Grenzen der Verbandsgemeinde hinaus, z.?B. zum Arzt nach Koblenz, bieten die Ehrenamtlichen von MachMit mit ihren eigenen PKWs an. Sie begleiten ältere Menschen beim Einkaufen oder bei Arztbesuchen und bieten nachbarschaftliche Dienstleistungen, wie Gartenpflege, Schneeräumen oder Unterstützung beim Ausfüllen von Formularen an. Darüber hinaus organisiert die Bürgergemeinschaft Informationsveranstaltungen und Freizeitangebote (www.mach-mit-kannenbaeckerland.de).
Für Menschen, die noch etwas mobiler sind, bieten wir jeden Freitag eine Spaziergehgruppe an, die von zwei Ehrenamtlichen begleitet wird. Die Leute werden überwiegend zuhause abgeholt. Dabei kann die Gruppe auf das BürgerMobil zurückgreifen, um so auch mal aus dem Ort hinausfahren zu können und beispielsweise im Schlosspark Bendorf spazieren zu gehen. Die Teilnahme ist kostenlos.
Und wir haben noch eine Seniorenakademie, die vom Jugend- und Kulturzentrum Zweite Heimat getragen wird. Die Angebotspalette reicht von PC-Kursen speziell für Senioren, Atem- und Entspannungskursen, Gitarreneinführungskursen für Senioren oder Senioren-Technik-Treff über Spiel- und Spaßnachmittage für Großeltern, Eltern und Enkel bis hin zu Autorenlesungen durch lokal bekannte Schriftsteller (www.juz-zweiteheimat.de/seniorenakademie).
Derzeit denken wir über ein Programm nach, wie wir alte Menschen beim gemeinsamen Mittagessen zusammenbringen und einen offenen Seniorentreffpunkt einrichten können.

Gibt es in der Verbandsgemeinde ausreichend günstigen Wohnraum?
Graf: Gerade kleine günstige Wohnungen sind in der Verbandsgemeinde schwer zu finden.

Becker: Ich weiß, es gibt eine Nachfrage nach preiswerten Wohnungen. Seit der Flüchtlingswelle 2015 haben wir das Marktsegment (4,50 bis 5 Euro pro Quadratmeter) komplett abgegrast. Wenn wir aber doch noch einige finden, sind die garantiert nicht seniorengerecht. Da gibt es keine barrierefreien Zugänge, keine Aufzüge, enge Treppenhäuser.
Die Herausforderung der nächsten Jahre wird es sein, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Früher besaß die Stadt Höhr-Grenzhausen einige Wohnungen. Die wurden aber verkauft, weil der Sanierungsstau zu groß war. Jetzt bedarf es einer anderen Vorgehensweise. Sollte ein kommunaler Wohnungsbau erfolgen, plädiere ich dafür, diesen außerhalb des normalen städtischen Haushalts zu organisieren. Ein Denkmodell wäre die Gründung einer GmbH oder einer Genossenschaft.

Graf: In der Verbandsgemeinde lebt eine größere Anzahl älterer Menschen allein in einem Eigenheim. Das Seniorenbüro führt aktuell Gespräche mit dem Studentenwerk Koblenz, das das Programm „Wohnen für Hilfe“ anbietet. Konkret heißt das: Ältere Menschen bieten Studierenden Wohnraum zu einem geringen Mietpreis an und erhalten dafür Unterstützung im Alltag. Beide Gruppen könnten davon profitieren. Das löst aber das Problem des fehlenden Wohnraums nur in Einzelfällen.

Becker: Generationenübergreifendes Wohnen war die ursprüngliche Gründungsidee des Bürgervereins MachMit. Leider haben wir es bisher nicht geschafft, ein Mehrgenerationenhaus in der Verbandsgemeinde Höhr-Grenzhausen zu etablieren. Ich glaube aber nach wie vor an die Möglichkeit der Umsetzung. Wenn wir ein Gebäude hätten oder einen Bauplatz zur Verfügung stellen könnten, würden wir bestimmt auch Investoren finden.
Unsere Senioren- und Pflegeheime sind sehr ausgelastet. Die Zunahme der älteren Bevölkerung wir mittelfristig auch hier ein Handlungsfeld eröffnen, wenn die vorhandenen Pflegeplätze nicht mehr ausreichend sind.

Wie beurteilen Sie die ärztliche Versorgung in Höhr-Grenzhausen?
Becker: Bisher sind wir gut mit Facharztpraxen, Allgemeinmedizinern und Zahnärzten versorgt. Unsere Onlineumfrage im letzten Jahr ergab jedoch, dass sich viele Patienten Gedanken darüber machen, wie es weitergehen soll, wenn ihr Arzt in Ruhestand geht.
Daraufhin wollten wir die Versorgungslage genauer betrachten. Wir luden die Ärzte in der Verbandsgemeinde ein und sprechen seither über deren Wünsche und eigene Planungen, über Nachfolgeregelungen, Hürden und Hindernisse. Das geht bis zu Überlegungen, mit der Praxis in modernere Gebäude umzuziehen, um leichter Nachfolger zu finden. In den Gesprächen entstand auch die Idee für ein medizinisches Versorgungszentrum, in dem sich mehrere Ärzte medizinische Geräte und die Verwaltung teilen könnten. Wir planen also heute die ärztliche Versorgung von morgen. Und das ist nötig. Wir haben in der Verbandsgemeinde zum Teil Hausarztpraxen mit über 3000 Patienten.
Mit allen Maßnahmen versuchen wir, die Nachbarschaft und das gesellschaftliche Miteinander zu fördern. Dabei helfen uns viele ehrenamtlich Engagierte. PORTRÄT

Thilo Becker ist seit 2009 hauptamtlicher Bürgermeister der Verbandsgemeinde Höhr-Grenzhausen und wurde 2017 für weitere 8 Jahre wiedergewählt.

Christa Graf leitet seit 2010 das Seniorenbüro der Verbandsgemeinde Höhr-Grenzhausen und begleitet Initiativen im Seniorenbereich.

www.hoehr-grenzhausen.de