Perspektiefe 48, April 2019

Tabuthema Altersarmut: Situation im Westerwaldkreis

NACHGEFRAGT: Beobachtungen in Beratungs- und Hilfeeinrichtungen zeigen, dass Altersarmut ein immer drängenderes Thema wird. Damit offen und zugleich sensibel umzugehen, ist allerdings für alle Beteiligten schwer. Diese Erfahrung machen auch die Mitarbeitenden der Diakonie Westerwald.
Ein Gespräch mit Petra Strunk, stellvertretende Leiterin des Diakonischen Werkes Westerwald.

Frau Strunk, wie schätzen Sie die Situation ein?
Strunk: Die Tafel Westerwald wird aktuell von etwa 2200 Kundinnen und Kunden besucht. Davon erhalten 35 Prozent Rente oder Grundsicherung im Alter. Das ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Wir können nur Menschen erfassen, die mobil genug sind, um zu uns kommen, und fit genug, die Lebensmittel zu tragen; oder die jemanden haben, der sie fährt und beim Tragen hilft. Bis zur nächsten Tafelausgabestelle müssen manchmal große Entfernungen zurückgelegt werden. Der Westerwaldkreis ist mit fast 1000 Quadratkilometer einer der größten Flächenlandkreise in Rheinland-Pfalz und zugleich ist der öffentliche Nahverkehr nur wenig ausgebaut. Das schließt von vornherein viele Menschen aus, die das Lebensmittelangebot eigentlich gerne nutzen würden, weil sie diese Hilfe dringend brauchen. Auch die Ehrenamtlichen, die in der Regel einen guten Einblick in die Situation vor Ort haben, berichten von Menschen, die aufgrund ihrer finanziellen Situation die Lebensmittel der Tafel gut gebrauchen könnten, das Angebot aber nicht nutzen. Neben der fehlenden Mobilität spielt natürlich das Gefühl der Scham auch eine wichtige Rolle.

Aber die Versorgung mit Lebensmitteln ist wahrscheinlich nicht das einzige Problem, mit dem Menschen im Alter umgehen müssen. Wie sieht es denn mit der Wohnsituation aus?
Strunk: Der an das Diakonische Werk angeschlossene Betreuungsverein berichtet, dass nahezu 80 Prozent der vom Amtsgericht zugewiesenen Menschen alleine leben und über eine Minirente verfügen, die durch Grundsicherung aufgestockt wird. Wenn sie in günstigen Wohnungen leben, sind diese häufig nur einfachverglast und schlecht isoliert. Das zieht hohe Nebenkosten nach sich. Wenn dann die Nachzahlungsbescheide für Strom und Heizung kommen, führt das die Mieterinnen und Mieter oft an ihre Existenzgrenze und in die Verschuldung.

Und dann?
Strunk: Dann kommen auch alte Menschen in die Schuldner- und Insolvenzberatung des Diakonischen Werkes – mit steigender Tendenz. Während bundesweit der Anteil der verschuldeten jungen Menschen leicht zurückgeht, steigt der Anteil der verschuldeten Senioren deutlich an.

Woran liegt das?
Strunk: Wir beobachten, dass die Rente häufig ausreicht, solange beide Partner noch leben. Wenn einer verstirbt, schrumpft das Einkommen des anderen dramatisch, und die Miete kann nicht mehr bezahlt werden. Dann werden ergänzende Leistungen bei der Grundsicherungsbehörde beantragt, die allerdings mit der Auflage verbunden sind, sich eine kleinere Wohnung zu suchen. Denn eine Person hat lediglich Anspruch auf 45 Quadratmeter Wohnraum. Das ist besonders für alte Menschen eine große Härte. Sie haben oft über 30 oder 40 Jahre zusammen mit den Kindern und dem Partner in ihrer Wohnung gelebt und sollen jetzt raus aus ihrem sozialen Umfeld, noch einmal umziehen und sich neu eingewöhnen. Und das, obwohl der Markt an bezahlbarem Wohnraum für Einpersonenhaushalte weitgehend ausgeschöpft ist. Wir hören dann häufig: „Ne, das mach ich nicht mehr, und wenn ich nur noch Brot esse.“

Ist diese Not für das Umfeld dann wirklich unsichtbar oder gibt es sichtbare Indizien, bei denen man hellhörig werden sollte?
Strunk: Armut ist sichtbar. Deutliche Anzeichen sind Zahnlücken, ungemachte und wildwachsende Haare und Stoffschuhe im Winter.

Wo sehen Sie die Herausforderungen in den nächsten Jahren?
Strunk: Nach meiner Einschätzung werden wir uns zukünftig verstärkt um alte Menschen kümmern müssen, die alleine leben, wenig Geld haben, nicht mehr sehr mobil sind und niemanden haben, der sich um sie kümmert.

Diese Hilfe darf dann aber wohl nicht zu bürokratisch organisiert sein, oder?
Strunk: Stimmt! Manchmal steht die Bürokratie der Hilfe im Weg, sogar dann, wenn es alle in den Ämtern gut meinen. Das kennen wir alle ja selbst aus unserem eigenen Alltag: Wir erhalten regelmäßig Behördenbriefe und stöhnen darüber, wie kompliziert und unverständlich die Behördensprache ist. Das geht armen alten Menschen natürlich nicht anders. Häufig verstehen sie die Briefe der Renten-, Pflege- und Krankenkassen oder Nachzahlungsbescheide nicht. Das gilt besonders, wenn ihnen keine Angehörigen zur Seite stehen, die mit ihnen zusammen die Schriftstücke in Ruhe durchgehen. Dadurch können sehr schwerwiegende Situationen entstehen, wenn z. B. Anträge nicht fristgerecht oder mit den erforderlichen Unterlagen gestellt werden, Zahlungen nicht vorgenommen werden oder keine Kenntnis von bestehenden Ansprüchen vorhanden ist. Wenn hier etwas schief läuft, hat das für manche der älteren Menschen fatale Folgen.
Sozialleistungsbescheide sind inzwischen so kompliziert, dass Sozialarbeiter Fortbildungen machen müssen, um Bescheide auf ihre Richtigkeit überprüfen zu können.

Können Sie von einem Beispiel erzählen?
Strunk: Ein älterer Herr suchte die Schuldnerberatungsstelle mit diversen Bescheiden auf. Bei ihm wurde keine Miete und kein Strom mehr abgebucht. Eine Beraterin besprach mit ihm die nächsten Schritte. Es schien, als hätte er verstanden, zu welchen Ämtern er gehen und was er in die Wege leiten muss. Er wollte sich darum kümmern und wieder anrufen. Nach mehrmaligem Nachfragen stellte die Beraterin fest, dass er gar nicht verstanden hatte, was zu tun ist. Sie fuhr zu ihm nachhause, suchte alle Unterlagen zusammen und regelte die finanziellen Angelegenheiten. Als ihm eine Kur bewilligt wurde, suchte sie für ihn Kleider im Secondhandladen der Diakonie dafür zusammen.
Eine andere Begebenheit betraf eine alte Frau, der man den Strom abstellen wollte, obwohl sie an einem Sauerstoffgerät hing, das über Strom betrieben wird. Eine Nachbarin wendete sich an den örtlichen Pfarrer, der dem Stromversorger das ausstehende Geld überwies. Eine Schuldnerberaterin besuchte die Frau zuhause, regelte ihre finanziellen Angelegenheiten und stellte den Kontakt zur Tafel her. Da sie nicht mehr mobil ist, bringt ihr ein Ehrenamtlicher der Tafel seither regelmäßig die Lebensmittel nachhause und schaut nach ihr. Er wird häufig schon erwartet und die Frau ist froh, dass sie mal wieder ein paar Worte mit jemandem sprechen kann.
Diese Form der umfänglichen Betreuung können unsere Beratungsstellen und Hilfeeinrichtungen nur in wenigen Einzelfällen leisten. Das sprengt einfach den Rahmen und würde uns völlig überfordern. An diesen beiden Beispielen wird deutlich, wo die Lücken in der derzeitigen Versorgung sind. Unsere Beratungsstellen sind darauf angewiesen, dass hilfebedürftige Menschen zu ihnen kommen oder sie in irgendeiner Form Kenntnis von einem Notfall erhalten. Und sie machen deutlich, wie viel bisher auf Ehrenamtliche verlagert wird. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.

Welche Veränderungen halten Sie für notwendig?
Strunk: Ich glaube, wir brauchen in Zukunft mehr aufsuchende Angebote für alte Menschen. In meiner Fantasie sollte es stadtteilbezogene Büros geben, die hauptamtlich geführt sind und durch Ehrenamtliche unterstützt werden. Man muss wissen, wer im Stadtteil wohnt und wer Hilfe benötigt. Die Hauptamtlichen müssen eine Ahnung im Sozialrecht und von Schuldnerberatung haben. Sie müssen wissen, was zu tun ist, und sollten Wohngeld oder Grundsicherung beantragen können. Das erfordert Profis und darf nicht auf Ehrenamtliche abgewälzt werden. www.diakonie-westerwald.de