Perspektiefe 50, Dezember 2019

Die moderne Ökonomik tut sich mit dem Gemeinwohl schwer

HINTERGRUND: Die große Finanzkrise von 2008/09 hat der Ökonomik als wissenschaftliche Disziplin schwer zugesetzt. Es klang alles so schön: Der Staat übergibt die Macht an Finanz­märkte und Unternehmen, deren Selbstinteresse mit dem Gemeinwohl quasi deckungsgleich wäre. Finanzmärkte überwachen dabei die Regierungen, bestrafen die schlechten und belohnen die guten.

von: Dr. Dirk Ehnts, TU Chemnitz, Vorstandssprecher Pufendorf-Gesellschaft e. V.
„Wenn man den Unter­nehmen und ihren Lob­bys die politische Ge­staltungsmacht über­lässt und gleich­zei­tig den Staat als Akteur re­duziert - dann führt das zu ganz un­ter­schied­lichen Problemen.”
Dr. Dirk Ehnts Die Unternehmen übernehmen die Macht im Bereich der Regulierung der Märkte, da sie es am besten wüssten und auch davon betroffen wären. Der Staat wird zum dezenten Helfer im Hintergrund in einer marktkonformen De­mo­kra­tie, die post-ideologisch zu denken ist: Der Kom­munismus hat verloren, lang lebe der Kapitalis­mus! Das Menschenbild des homo oeconomicus, des vernünftig handelnden Individuums, bestimmte unsere Sicht auf die menschlichen Dinge. War es nicht rational, Vermögen aufzubauen? Als atomistisches Individuum dem Konsum zu frönen? Die steigende Angebotskurve suggerierte dabei, dass Produktionen immer weiter erhöht werden können, wenn auch bei steigenden Preisen. Die unbegrenzte Menge an Gütern wurde nur durch die von der Zentralbank kontrollierte Geldmenge begrenzt. Dumm nur, dass in der Realität die Res­sourcen begrenzt sind und die Geldmenge nicht, wie wir nach den Ankaufprogrammen der Zentral­banken wissen. "There is no such thing as society" - was Thatcher sagte, spiegelte sich im Weltbild der Öko­nomen. Der Wohlfahrtsstaat verkam zum teuren Luxus, den man sich zudem im internationalen Wettbewerb nicht mehr leisten könne. Trotz­dem - oder deswegen? - wurde der Freihandel als absolutes Ideal vergöttert und die Globali­sierung quasi als "Ende der Geschichte" herbeigesehnt. Auf Seiten der Makroökonomik wurde das gesamtwirtschaftliche Problem der Un­gleich­heit ignoriert, angeblich unabhängige Zentral­ban­ken sollten Verteilungsfragen klären durch Geld­politik. In supra- und internationalen Verträgen (EU, WTO, Eurozone) wurden Rechte des Sou­veräns abgetreten, was den politischen Spielraum weiter einschränkte.

Das Ende des Neoliberalismus ...

Heute stehen wir immer noch vor dem Scherben­haufen, den die Theorien des sogenannten Neo­liberalismus angerichtet haben. Wenn man den Unternehmen und ihren Lobbys die politische Gestaltungsmacht überlässt und gleichzeitig den Staat als Akteur reduziert - dann führt das zu ganz unterschiedlichen Problemen. So zog sich der Staat über die Jahrzehnte aus dem Woh­nungs­­­bau zurück und überließ das Feld großen internationalen Unternehmen. Heute beklagen wir rasant steigende Mieten und für die Masse unerschwingliche Hauspreise. Warum waren wir nicht in der Lage, als Ökonomen diese Probleme klar zu erkennen? Wir sehen, dass sowohl auf der Mikroebene der Haushalte und Unternehmen wie auch auf der Makroebene der Staatsausgaben, Steuern und Geldpolitik die Ökonomik in ihren Modellen wesentliche Punkte übersehen hat. Einer dieser Punk­te ist die Rolle des Staates. Während Unter­nehmen im Wettbewerb Profite maximieren und diese - durch die unsichtbare Hand vermittelt - auch zum höchsten Gemeinwohl führen, muss der Staat nach herrschender Meinung ausgebremst werden. Eine Erhöhung des Gemeinwohls durch staatliche Tätigkeit ist quasi von vorneherein ausgeschlossen. Warum ist das so? Woher kommen diese "stillen" Annahmen?

... und seine theoretischen Grundlagen

Die moderne Ökonomik hat sich aus der politischen Ökonomie entwickelt, welche sich ihrerseits aus der politischen Philosophie entwickelt hat. Das Fundament der Ökonomik ist ihr jeweiliges Menschenbild. Wer sind wir? Wonach streben wir? Die Philosophie der Aufklärung, auf der auch die moderne Ökonomik mit ihrer Betonung der Vernunft basiert, sieht den Menschen als vernunftbegabtes Wesen. Durch den Einsatz der ratio könnte menschliches Zusammenleben so gestaltet werden, dass alle zufrieden sind. Wir alle sind dabei ein Meer von Individuen, die von verkrusteten, traditionellen gesellschaftlichen Struk­turen in unserer Freiheit beschränkt werden. Wirk­liche Freiheit erfahren wir als Individuen, wenn wir untereinander, weitestgehend von staatlicher Re­gulierung uneingeschränkt, Verträge abschließen können. Durch diese klären wir die gesellschaftlichen bzw. individuellen Konflikte.

Gemein, gemeiner, Gemeinwohl?

In diesem Menschenbild ist kein Platz für Gemein­wohl. Es gibt schlichtweg kein "Wir", keine Gesell­schaft. Wenn mit Gemeinwohl das Wohlergehen eines jeden in einer Gesellschaft gemeint ist, dann haben wir ein Problem. In der modernen Ökono­mik können wir darüber nicht reden, weil wir keinen Begriff der Gesellschaft haben. Der Staat taucht durchaus auf in der modernen Ökonomik, zum Beispiel in der Wirtschaftspolitik oder bei der Beseitigung von Marktversagen. Gesellschaft allerdings ist nicht definiert. Ebenfalls nicht definiert ist das Volk, von dem alle Macht ausgeht. Die moderne Ökonomik kennt keine Demokratie. Sie kennt Politik nur als public choice, als Wettbewerb von korrupten Politiker*innen um Wählerstimmen. Wenn dem Gemeinwohl als Leitmotiv der Ge­sell­schaft eine Rolle eingeräumt werden soll, dann ist es extrem unwahrscheinlich, dass sich das auf der Grundlage der modernen Ökonomik bewerkstelligen lässt. Statt "jeder für sich" gäbe es nun ein "wir für uns". Wie verträgt sich das mit dem rationalen Individuum? Was brauchen wir denn für uns, das nicht ein jeder für sich selbst erzeugen kann? Die Idee des Gemeinwohls ist Teil eines Gegenentwurfs zum homo oeconomicus. Sie sieht den Menschen eben nicht nur als vernünftiges Wesen, sondern als Teil einer Gesellschaft, welche die Individuen bilden. Der Staat schafft dabei die Voraussetzungen dafür, dass wir aufblühen können. Er nimmt uns die Angst vor Armut, sozialem Abstieg und Arbeitslosigkeit.

Der Mensch - mehr als nur Konsumwünscher

Neben unseren Konsumwünschen interessieren wir uns auch für Gerechtigkeit und andere soziale Fragen. Die moderne Ökonomik ist zu verengt. Das ist problematisch, wenn es bei sehr großer Ungleichheit der Einkommen und Vermögen in einer Gesellschaft keine Gerechtigkeit mehr zu geben scheint. Während einige Millionen oder Milliarden erben, werden andere niemals den sozialen Aufstieg schaffen, auch wenn sie sich noch so sehr mühen. Fragen der Fairness, der Ge­rech­tigkeit, der Verteilung - alle diese Fragen werden von der modernen Ökonomik entweder verdrängt oder mithilfe von individualistischen Ansätzen verhandelt, die nicht überzeugen können. Kein Mensch glaubt beispielsweise, dass Hedgefonds-Manager wie Carl Icahn 350.000 Dollar die Stunde verdienen, weil sie produktiver sind als andere Men­schen. Kein Mensch denkt ernsthaft, dass Pflege­kräfte unterbezahlt sind, weil sie unproduktiv sind. Viele Fragen haben wir traditionell als Gesell­schaft über die Politik entschieden. In den letzten Jahrzehnten seit 1980 haben wir immer mehr Fra­gen aus dem politischen Bereich entfernt. Heute sind die Folgen klar zu erkennen. In westlichen Gesellschaften nimmt die Ungleichheit zu bei Einkommen und Vermögen, die soziale Mobilität reduziert sich, soziale Spannungen und Ängste wachsen, es kommt zu einer Desintegration der Gesellschaft, was aus neoliberaler ökonomischer Perspektive sicherlich erwünscht ist: Die Indivi­duen sollen ja rational sein und nicht in gesellschaftlichen Strukturen befindlich! Die moderne Ökonomik schafft also gerade die Annahmen in der Realität, die sie in ihrem theoretischen Men­schenbild vorausgesetzt hat. Für eine Gemeinwohl-Ökonomik brauchen wir ein neues, realistischeres Menschenbild. Indivi­duum und Gesellschaft sind keine Gegen­sätze. Die Indi­viduen bilden die Gesellschaft, die sich aus ihnen zusammensetzt. Die Gesellschaft ist dabei unsere anthropologische Konstante - wir wachsen seit Jahrtausen­den in ihren jeweiligen Ausprägungen auf. Die moderne Gesellschaft - den Staat - zu verdammen war ein Fehler. Der Neubeginn beginnt beim Menschenbild. Wir wollen nicht nur konsumieren, wir überlegen auch, wie wir leben wollen. Der demokratische Staat hilft uns bei der Umsetzung unserer Vorstellungen, gerade dann, wenn es um das Gemeinwohl geht und nicht um Profite. Die Menschen sind nicht von Geburt an rational, sondern müssen durch die Gemeinschaft zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern erzogen werden. Unser Hang zur Geselligkeit muss gefördert, der Hang zur Gewalt eingedämmt werden. Dies ist das spannende politische, theoretische und praktische Projekt des 21. Jahrhunderts.