Perspektiefe 50, Dezember 2019

Gemeinwohl – Leitbegriff christlicher Sozialethik

SOZIALETHISCHE BETRACHTUNG: Martin Luther hat in einer prägnanten Formulierung festgehalten, was die Grundlage jeglicher theologischen Besinnung ist: Erfahrung. "Sola experientia facit theologum". Allein Erfahrung macht den Theologen (und die Theologin).

von: Pfarrer Dr. Ralf Stroh, Referat Wirtschaft & Finanzpolitik, ZGV
„Gemeinwohl wie indi­viduelles Wohl sind beide unverzicht­bare Leitbegriffe der Sozial­ethik, weil beide we­sentliche Aspekte des menschlichen Lebens zur Sprache bringen.”
Dr. Ralf Stroh Die Theologie ist in allen ihren Bereichen eine Erfahrungswissenschaft. Das gilt nicht zuletzt für die christliche Sozialethik. Sie beschreibt den Menschen nicht, wie er sein soll, sondern sie versucht zu erfassen, wie es um den Menschen tatsächlich bestellt ist. Nur dadurch kann sie überhaupt ihre orientierende Funktion erbringen. Nur wer sich auf die unverkürzte Wirklichkeit einlässt, hat eine Chance, sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden, und darf hoffen, mit Aussicht auf Erfolg Gesellschaft verantwortlich mitzugestalten.

Sozialethik als Wissenschaft vom Men­schen: Anthropologie und Psychologie

Weil die christliche Sozialethik ihrem Wesen nach die erfahrungsgesättigte Erfassung des Menschen in all seinen Höhen wie seinen Abgründen ist, ist die Grunddisziplin der Sozialethik wie überhaupt jeder theologischen Teildiziplin die Anthropologie. Die Anthropologie ihrerseits wird ihrem Gegen­stand - dem Menschen - nur dadurch gerecht, wenn sie ihn nicht lediglich äußerlich beschreibt, sondern in seiner Eigenschaft ernst nimmt, ein erfahrendes Wesen zu sein. Die größte Heraus­forderung des Menschen besteht darin, sich auf die eigene Erfahrung einlassen zu müssen, ohne vor ihr die Flucht ergreifen zu können. Aus diesem Grund ist das Fundament einer jeglichen Erfah­rungs­wissenschaft vom Menschen die menschliche Erfahrung selbst. Und somit ist die zentrale Disziplin der Anthropologie die Psychologie. Diese fundamentale Bedeutung der Psycho­logie für die Systematik der Erfahrungs­wissen­schaften wie aller Wissenschaften überhaupt gehörte lange Zeit zum Grundbestand akademischer Bildung. Noch Adam Smith entwarf seine epochemachende Beschreibung des Wohlstands der Nationen (1776) auf der Grundlage seines philosophischen Hauptwerkes, der Theorie der ethischen Gefühle (1759). Auch für den Begründer der modernen evange­lischen Theologie, Friedrich Daniel Ernst Schleier­macher, bildet die Psychologie das Fun­dament aller Wissenschaften. Und zugleich liefert die Ein­sicht in die Psyche des Menschen für Schleier­ma­cher die Grundlage, um zu einem reali­täts­ge­rech­ten Entwurf des menschlichen Zu­sammenlebens zu gelangen, der Orientierung bietet sowohl im allgemeinen Diskurs über die Ge­staltung des gesellschaftlichen Miteinanders - in seiner Philo­sophi­schen Ethik - wie auch für die Verständigung in­nerhalb des christlichen Lebens­zusammen­hanges - in seiner Christlichen Sittenlehre.

Der sozialethische Horizont seelsorglichen Handelns

Sowohl für Smith wie für Schleiermacher war klar, dass eine Gestaltung des gesellschaftlichen Mit­einanders nur dann dem Menschen gerecht werden kann, wenn diese Gestaltung ihren Maßstab an der menschlichen Psyche, der menschlichen Seele hat. Das ist auch der Grund dafür, dass aus theologischer Perspektive Sozialethik nur ein anderer Ausdruck für Seelsorge ist - wenn man den weiten Seelsorgebegriff der cura animarum generalis zugrunde legt und bei Seelsorge nicht lediglich an die cura animarum specialis, also die Seelsorge in einzelnen Fällen, denkt. Dabei wäre es ein Missverständnis, wenn man bei Seelsorge nur an die Sorge um die Innerlichkeit des Menschen denken würde. Psychologie und Seelsorge erfassen den Menschen nur dann konkret, wenn sie ihn in seiner unhintergehbaren Leib­lichkeit erfassen. Die Seele oder der menschliche Geist leben nicht in einem ihnen äußerlichen Körper wie in einem Gefängnis. Unsere Seele ist die Seele eines Leibes, der dieser Seele nicht äußerlich ist. Unser Körper ist das Medium unseres Geistes. Wir begeistern uns an unserer Sinnlichkeit mindestens ebenso sehr wie wir sie erleiden. Unsere Leiblichkeit zeigt uns nicht unsere Grenzen auf, sondern sie zeigt uns, wer wir sind. Und sie ist gerade damit zugleich die kritische Instanz, die es uns ermöglicht, Zuschreibun­gen anderer, wer wir zu sein oder nicht zu sein hätten, in die Schran­ken zu weisen - aber eben auch die Illu­sionen, die wir über uns selbst haben und unter denen wir oft stärker leiden als unter fremden Erwartungen. Ebenso wäre es ein Missverständnis, bei Seel­sorge nur an die Sorge um einzelne Personen zu denken. So wie der Leib wesentlich zur Seele gehört, gehört das Mitsein mit anderen wesentlich zum Erleben unserer selbst, zu unserem Seelen­leben, hinzu. Auch hier kommt das Mitsein nicht nachträglich zu unserer Existenz hinzu. Es ist immer schon da. Wir finden uns immer schon in Ge­meinschaft vor. Unsere Individualität gibt es nur als Sein in Gemeinschaft. Indem wir unsere Indi­vidualität ausleben, gestalten wir immer auch zugleich unser Zusammenleben. Selbst das zeit­weilige sich Zurückziehen aus der Gesellschaft mit anderen kann gar nicht anders, als gerade
da­durch das Zusammensein mit anderen zu gestalten. Der Eremit oder das Kloster sind immer soziale Phänomene, die auf das Zusammenleben ausstrahlen.

Gemeinwohl als Leitbegriff christlicher Sozialethik

Aus dieser Perspektive der Sozialethik bzw. der sozialethisch verstandenen Seelsorge ist klar: Was ein Gut zu einem Gut macht, ist niemals etwas, das in äußerlichen Qualitäten aufgeht. Die Güte eines Gutes bemisst sich immer an dem körperlichen und seelischen Wohlbefinden, das mit ihm für unser Zusammenleben mit anderen verbunden ist. Weil der Maßstab für die Güte eines Gutes in dem körperlichen und seelischen Wohlbefinden besteht, das mit ihm verbunden ist, kann diese Güte auch nicht in einem statischen Zustand bestehen. Es soll ja ein Gut für Menschen als lebendige Wesen sein. Es muss also Wohlbefinden verschaffen nicht nur in einem einzelnen Moment, sondern für die künftigen Lebensvollzüge des Einzelnen im Zusammensein mit anderen. Ein Gut wird dadurch zum Gut, dass es Zukunft verheißt - für die Einzelnen wie für ihr Zusammenleben. Darum lassen sich auch das Wohl für den Einzelnen und das Gemeinwohl nicht voneinander trennen. Es gibt das eine nicht ohne das andere. Gemeinwohl wie individuelles Wohl sind beide unverzichtbare Leitbegriffe der Sozialethik, weil beide wesentliche Aspekte des menschlichen Lebens zur Sprache bringen. Es ist für jeden Menschen wesentlich, ein eigenständiges Lebewesen zu sein, das in sich selbst seine Würde besitzt. Und zugleich ist es für jeden Menschen wesentlich, dieses eigenständige Leben nie anders als im Zusammenleben mit anderen führen zu können. Beides ist gleich­ursprünglich und daher kann beides auch nicht gegeneinander ausgespielt werden. Es ist immer ein Missverständnis, wenn der Eindruck entsteht, das individuelle Wohl müsse zugunsten des Gemeinwohls zurückstehen - oder umgekehrt. Wo immer solch ein Missverständnis auftaucht, gibt es Klärungsbedarf. Und wo es solchen Klärungsbedarf gibt, mag er zwar auch ökonomische Aspekte besitzen. Aber wenn man Smith und Schleiermacher ernst nimmt, ist die Antwort auf die Frage nach der Wohlordnung unseres Lebens nicht an der Frage vorbei zu beantworten, wie sorgfältig wir uns auf die Fülle unseres Erlebens einlassen, das all unsere Lebensvollzüge fundiert. Das geht eindeutig nicht in ökonomi­schen Fragen auf. Ein Zusammenleben, das sich ohne Scheu an der unverkürzten Wirklichkeit des menschlichen Erlebens orientiert, ist auf gutem Wege, dem Gemeinwohl zu dienen.