Perspektiefe Spezial, April 2020

Verantwortungsvolles Handeln in Krisenzeiten: Beobachtungen zur Corona-Pandemie aus der Perspek­tive christlicher Ethik

WIRTSCHAFT & FINANZPOLITIK: Völlig zurecht wird sowohl aus politischer wie wissen­schaft­­licher Perspektive darauf hingewiesen, dass die gegen­wärtigen Herausforderungen durch die Corona-Pandemie verantwor­tungs­volles Handeln und Engagement von einem jeden Einzelnen in unserer Gesell­schaft erfordern.

von: Pfarrer Dr. Ralf Stroh, Referat Wirtschaft und Finanzpolitik
„Aus Sicht der christ­lichen Ethik gibt es auch in einem Fall wie der Corona-Pandemie für nieman­den ledig-lich eine Zu­schauer­perspektive.“ Pfarrer Dr. Ralf Stroh Es handelt sich um eine gesamtgesellschaftliche und globale Krise, die nicht nur einzelne Bereiche und Gruppen betrifft, sondern alle gesellschaftlichen Lebensbereiche und alle Per­sonen ohne Ausnahme erfasst und ihnen allesamt zumutet, an je ihrem Ort und in je ihrer gesellschaft­lichen Rolle und Aufgabe dieser Herausforderung gerecht zu werden und angemessen zum Wohle aller zu handeln. Darum ist die Suche nach ethischer Orien­tierung auch von der Art, dass sie sich nicht nur auf Fragen beschränken kann, die im Zusam­men­hang medizinischer Entscheidungen und Hand­lungen oder verantwortungsvollen Handelns in politischen Entscheidungs- und Regelungspro­zessen auftreten. Zweifellos ist es ein hohes gesellschaftliches Gut, dass öffentlich über die ethischen Maß­stäbe nachgedacht wird, die medizinisches wie auch poli­tisches Handeln angesichts der beispiel­losen aktuellen gesellschaftlichen He­raus­forderungen orien­tieren sollten. Dieses öffentliche Nachdenken trägt dazu bei, das gesell­schaftliche Vertrauen in das professionelle und lebensdienliche Handeln medizinischer wie politischer Verantwor­tungs­träger zu bewahren und zu stärken. Und es macht damit zugleich auch klar, dass es zur Ver­an­t­wortung aller übrigen gehört, das medizinische und poli­ti­sche Handeln der hierfür zuständigen Personen und Ins­titutionen zu unterstützen und nicht zu behindern. Diese Unterstützung besteht aber gerade nicht lediglich darin, medizinischen Ratschlägen und politischen Regelungen und Vorgaben nach bes­tem Wissen und Gewissen – also aus Einsicht und nicht blind – Folge zu leisten und sie nicht zu behindern. Das Fundament solcher Unterstützung ist näm­lich mindestens ebenso sehr das engagierte Wahrnehmen der Verantwortung, die einem jeden und einer jeden Einzelnen der gesellschaftliche Ort und die gesellschaftliche Rolle zumuten, an und in denen er oder sie sich befindet – als junger oder alter Mensch, als Verwandter oder Freund, als Konsument oder Produzent, als Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, als Vermieter oder Mieter, als Gesunder oder Kranker, um nur einige wenige solcher Rollen zu nennen, die sich zudem ja vielfältig überschneiden und mischen. Gerade weil es sich bei der Corona-Pandemie um eine gesamtgesellschaftliche und globale Herausforderung handelt, kann diese Heraus­forderung auch nur durch eine gesamtgesellschaftliche und globale Anstrengung gemeistert werden – also eine Anstrengung einer jeden einzelnen Person ohne Ausnahme. Der Hinweis auf besonders systemrelevante oder überlebenswichtige Bereiche (etwa den medizinischen, den politischen oder den wirtschaft­lichen Bereich) kann in diesem Zusammenhang daher nur den Hinweis auf die spezifische Aufgabe dieser jeweils betonten Bereiche meinen, also den Hinweis auf die besondere Aufgabe, die je diesen Bereichen im Zusammenhang der Krise zukommt und nur von ihnen bearbeitet werden kann und daher auch von ihnen bearbeitet werden muss. Nicht gemeint sein kann mit dieser Rede jedoch, dass alle übrigen gesellschaftlichen Lebens­bereiche aktuell nur zweitrangig und weniger systemrelevant wären.

Es gibt keine Zuschauerperspektive

Aus Sicht der christlichen Ethik ist daran festzu­halten, dass ein Lebensganzes immer ein Ganzes ist und nie eine Addition von Einzelteilen, auf die je nach Lage der Dinge auch verzichtet werden könnte. Ein klassischer Text für diese Sicht der christlichen Ethik findet sich im Brief des Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth: „Denn auch der Leib ist nicht ein Glied, sondern viele. Wenn nun der Fuß spräche: Ich bin keine Hand, darum gehöre ich nicht zum Leib!, gehört er deshalb etwa nicht zum Leib?
Und wenn das Ohr spräche: Ich bin kein Auge, darum gehöre ich nicht zum Leib!, gehört es deshalb etwa nicht zum Leib? Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo bliebe das Gehör? Wenn er ganz Gehör wäre, wo bliebe der Geruch?
Nun aber hat Gott die Glieder eingesetzt, ein jedes von ihnen im Leib, so wie er gewollt hat.
Wenn aber alle Glieder ein Glied wären, wo bliebe der Leib? Nun aber sind es viele Glieder, aber der Leib ist einer. Das Auge kann nicht sagen zu der Hand: Ich brauche dich nicht; oder wiederum das Haupt zu den Füßen: Ich brauche euch nicht. Vielmehr sind die Glieder des Leibes, die uns schwächer erscheinen, die nötigsten; und die uns weniger ehrbar erscheinen, die umkleiden wir mit besonderer Ehre; und die wenig ansehnlich sind, haben bei uns besonderes Ansehen; denn was an uns ansehnlich ist, bedarf dessen nicht. Aber Gott hat den Leib zusammengefügt und dem geringe­ren Glied höhere Ehre gegeben, auf dass im Leib keine Spaltung sei, sondern die Glieder einträchtig füreinander sorgen. Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit“ (1.Kor 12, 14–26). Aus Sicht der christlichen Ethik gibt es auch in einem Fall wie der Corona-Pandemie für nieman­den lediglich eine Zuschauerperspektive. Auch hier schaut niemand dem Leben lediglich zu, sondern jeder und jede Einzelne ist selbst Teil dieser Si­tua­tion, ist Akteur und nicht nur Betrachter, und muss sich der Verantwortung stellen, die ihm die besondere Position zumutet, in der er sich vorfindet. Das mutet einem jeden zweierlei zu: eine Vor­stellung vom Ganzen des menschlichen Zu­sam­menlebens und zugleich eine Vorstellung von den vielfältigen Aspekten dieses Lebensganzen. Aus Sicht der christlichen Ethik ist diese Ver­stehens­zumutung niemals abschließend gelöst. Sie ist eine Aufgabe, die uns als Einzelnen wie als Gesellschaft im globalen Miteinander gestellt ist. In ihrer Bearbeitung besteht die individuelle wie die gesellschaftliche Bildungsgeschichte der Menschheit.