Perspektiefe Spezial, April 2020

Die Corona-Krise in der EU: Vereinzelt uns das Virus oder vereint es?

ARBEIT & SOZIALES: Die schnell ansteigenden Fallzahlen der Corona-Pandemie zwingen zu unmittelbaren und einschneidenden Maßnah­men. Wie handlungsfähig zeigt sich die EU in der Krise, wo wir schon innerhalb Deutschlands nur mit Mühe zu bundeseinheitlichen Regelungen kommen?

von: Gisela Zwigart-Hayer, Referat Arbeit und Soziales
„Eine positive Wirkung könnte man darin erkennen, dass ange­sichts des Mangels, der offenbar wird, Dienstleistungen und Güter eine neue Wertigkeit erfahren.“ Gisela Zwigart-Hayer Einigkeit und Solidarität der Mitgliedsstaaten untereinander gestalten sich ohnehin häufig schwierig. Mit dem Ausbruch der Corona-Krise mussten wir viele Reaktionen erleben, die nicht von einem gemeinsamen europäischen Geist zeugen. Um seine Bürger auf die Ernsthaftigkeit der Krise einzuschwören, scheut beispielsweise Frank­reichs Präsident Macron auch martialische Ver­gleiche nicht und spricht – ausgerechnet im grenznahen Elsass – vom „Krieg“ gegen das Coronavirus und der „Operation Widerstands­kraft“. Viktor Orban reagiert mit einem unbe­fristeten Notstands­gesetz und hebelt damit demokratische Grundrechte in Ungarn aus.

Schengenraum existiert nicht mehr

Die Grenzen in Europa sind geschlossen, der Schengenraum, wo Grenzkontrollen zwischen den Staaten eigentlich abgeschafft sind, existiert de facto nicht mehr. Mittlerweile haben mehr als die Hälfte der 26 Schengenstaaten scharfe Grenz­kontrollen eingeführt, auch Deutschland. Die Folge waren Megastaus, vor allem an den deutsch-polnischen und den österreichisch-ungarischen Übergängen. Die Bemühungen der EU-Kommission um einen möglichst reibungsarmen Binnenmarkt in dieser Krisenzeit haben zwar zu einer Reduzierung von Staus an den Grenzübergängen geführt, nach wie vor gibt es jedoch erhebliche negative Aus­wirkungen auf Berufspendler und Saison­arbeits­kräfte. Für Berufspendler gelten verschärfte Grenz­übertrittsregeln; Sonderkontrollen führen zu langen Wartezeiten. Ein Beispiel: Von Rheinland-Pfalz nach Frankreich oder umgekehrt zu gelangen, ist derzeit nur noch über drei Grenzübergänge möglich. Das beschränkte Einreiseverbot für Saison­arbeitskräfte aus Bulgarien und Rumänien führt beispielsweise dazu, dass die deutschen Land­wirte nach wie vor hände­ringend nach Arbeits­kräften für Ernte und Aussaat suchen.

Fragwürdige Einigkeit beim Schutz der europäischen Außengrenzen

Lediglich bei der Frage der Abschottung der Außen­grenzen, insbesondere der griechischen zur Türkei, wurde die Einigkeit im Handeln nicht infrage gestellt. Als positives Beispiel für die Handlungsfähig­keit der EU eignet sich diese Vorgehensweise dennoch nicht: Hier wurde die europäische Idee von Men­schenwürde und Menschenrechten schon vor Beginn der Corona-Pandemie mit Füßen ge­treten. Das lange Ringen um die Auf­nahme un­begleiteter Kinder aus den Flücht­lingslagern in Griechenland ist kein Glanzstück europäischer Handlungsfähigkeit.

EU-Gremien wollen Handlungsfähigkeit zeigen

Angepasst an die Erfordernisse der Pandemie arbeiten auch die EU-Institutionen im Notmodus: Das EU-Parlament wird technisch unterstützt zur „Fernteilnahme“ an Sitzungen. Über „Fern­abstimmungen“ sollen Parlamentsentscheidungen zeitnah ermöglicht werden. Trotz Warnungen aus Fachkreisen in Bezug auf die Datensicherheit und Manipulierbarkeit bei den gewählten Verfahren ist es den Parlamentarier*innen wichtig, handlungs­fähig zu bleiben und für die Bevölkerung in der derzeitigen Krise besser wahrnehmbar zu sein.
Der Rat, also die Staats- und Regierungschefs, agieren zwar mit dem Ziel, an einem Strang zu ziehen. Die Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, hat mit deutlichen Worten einen solidarischen und einheitlichen Umgang der EU-Mit­gliedsstaaten angemahnt. Doch die zum Teil heftigen Kontroversen um das nun beschlossene, dreiteilige Halben-Billion-Euro-Paket (1) zur Unter­stützung von Mitgliedsstaaten in der Corona-Krise zeigen, dass das „pochende Herz der europäi­schen Solidarität“ (Ursula von der Leyen) offenbar unter Herzrhythmusstörungen leidet. Prinzipien­streitereien, unterschiedliche Staats- und Demo­kratieverständnisse, unklare Haltungen zur europäischen Haushalts-, Fiskal- und Wirtschaftspolitik und auch ganz offensichtliche Aufkündigungen vormals gemeinsam geteilter Wertehaltungen teilt Europa nicht nur sozialpolitisch immer mehr in Süd und Nord, sondern auch in Ost und West. Die Coronavirus-Krise bringt dies erneut bedrückend zum Vor­schein. Wenn Europa nicht aufpasst, sind es vor allem die Populisten, die daraus Krisen­gewinne ziehen. Keine hoffnungsfrohe Aussicht.

Es gibt aber auch Gelingendes

Es gibt aber – Gott sei Dank – auch Gelingendes: Bedenkt man das übliche Prozedere bis zum Zustandekommen eines EU-Gesetzes, haben sich EU-Rat, -Kommission und -Parlament in recht kurzer Zeit auf verschiedenste Einzelmaß­nahmen (2) geeinigt. Um unsolidarischen Auswüchsen entgegen­zuwirken – als Beispiel sei die Entscheidung Deutsch­lands und Frankreichs zur Kappung der Ausfuhr knapper medizinischer Schutzkleidung an EU-Partner genannt, oder die Beschlagnahmung von Schutzmasken aus Transitlieferungen durch die tschechische Regierung –, wird in den EU-Leitlinien betont, dass der freie Warenverkehr – vor allem mit Blick auf Medizin und andere wichtige Güter – möglichst wenig gestört werden solle. Es wurde eine verstärkte Zusammenarbeit zur Ver­sorgung mit medizinischer Schutzausrüstung und zur gemeinsamen medizinischen Forschungs­arbeit beschlossen.
Es dürften eigene Staatsbürger, in dem Land ansässige EU-Bürger und sonstige Ansässige an den Binnengrenzen nicht ausgesperrt werden. Grenzgängern, die im Gesundheits- oder Pflege­bereich arbeiten, soll das Überqueren von Bin­nengrenzen erleichtert werden. Eine positive Wirkung könnte man darin erkennen, dass angesichts des Mangels, der offenbar wird, Dienstleistungen und Güter eine neue Wer­tigkeit erfahren; beispielsweise bekommt die Leis­tung der Saisonarbeitskräfte aus den Oststaaten derzeit öffentliche Wahrnehmung. Es wird sich zeigen, ob damit verbunden auch eine höhere Wert­schät­zung nachhaltig wirksam werden wird. Vor allem gibt es Beispiele gelebten Europas, die von der Überwindung nationaler Egoismen zeugen. So nehmen Krankenhäuser auch aus der rheinland-pfälzischen Grenzregion Corona-Patien­ten aus Frankreich auf. Es sind zahlreiche Soli­daritäts- und Hilfsaktionen für Partnerstädte entstanden. Die Idee aus Italien, mit gemeinsamem Balkongesang gegen die Isolation und die Ängste, die mit den Ausgangsbeschränkungen während der Pandemie einhergehen, anzusingen, wird auch in unseren Städten aufgenommen.

Was treibt mich um, wenn ich an die EU denke?

Das Virus hat sich, von Grenzschließungen und Machtdemonstrationen nationaler Staatenlenker unbeeindruckt, weiter verbreitet – das zeigt im Grunde einmal mehr, dass Abschottung und Säbelrasseln keine Probleme lösen. In der Krise zeigen grenzüberschreitende solidarische Aktio­nen aber auch, dass der europäische Gedanke von Solidarität und Menschenwürde eine starke positive Wirksamkeit entfalten kann.Die EU-Staaten haben jetzt die Pflicht und die Chance zu verstärktem solidarischem Handeln – damit die in der EU lebenden Menschen erfahren, dass sie sich unter einem großen gemeinsamen Sicherheitsdach befinden, dass soziale und wirtschaftliche Probleme gemeinsam besser durchgestanden und bewältigt werden können, dass die EU auch in schweren Zeiten hilfreich ist. Noch sind die Belege dafür eher dünn.
(1) Das Unterstützungspaket umfasst 1. vorsorgliche Kreditlinien des Euro­­­­rettungsschirms ESM von bis zu 240 Milliarden Euro, die besonders von der Pandemie betroffenen Staaten zugutekommen könnten; 2. einen Garantiefonds für Unterneh­menskredite der Europäischen Inves­titionsbank EIB, der 200 Mil­liarden Euro umfasst, und 3. ein von der EU-Kommission vorgeschlagenes Kurz­arbeiter-Programm namens „Sure“ im Umfang von 100 Milliarden Euro. (2) s. ec.europa.eu/info/live-work-travel-eu/health/coronavirus-response/timeline-eu-action_de