Perspektiefe Spezial, April 2020

Leere Regale durch Lebensmittel-Hamsterkäufe

LÄNDLICHER RAUM: Seit Jahrzehnten waren Nahrungsmittel gefühlt immer und überall in unzähligen Produkt-Varianten verfügbar. Eine reiche Konsumgesellschaft betrachtete die freie Auswahl unter Dutzenden an Joghurt-Varianten als Selbstver­ständ­lichkeit oder gar als grundsätzlichen Anspruch aller Bürger*innen.

von: Dr. Maren Heincke, Referat Ländlicher Raum 
„Erst das Hamster­verhalten vieler Mitbürge­r*in­nen führt geradewegs zu der von den Hamsterern zutiefst befürchteten Situation der Liefer­engpässe.“ Dr. Maren Heincke Nun erzeugt der völlig ungewohnte Anblick ausgeräumter Supermarktregale Irritatio­nen, Angst und Ärger. Bei einigen wird der Urinstinkt „Jagen, Sammeln, Horten“ geweckt. Hemmschwellen fallen bis hin zu gewalttätigen „Supermarkt-Schlachten“ um Toilettenpapier und Nudeln. Sehr viele Menschen haben Hamsterkäufe unternommen. Es ist ein schmaler Grat zwischen vernünftiger, notwendiger Lebensmittel­vorrats­hal­tung für zwei Wochen in der Corona-Krise und dem gierigen Anhäufen von Lebensmitteln, die dann wegen geringer Haltbarkeit zum Teil sogar noch vergammeln werden. Das Paradoxe an der Situa­tion: Erst das Hamsterverhalten vieler Mitbürge­r*in­nen führt geradewegs zu der von den Hamsterern zutiefst befürchteten Situation der Lieferengpässe. Einige Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen das veränderte Einkaufsverhalten eindrucksvoll: Der Absatz im Einzelhandel hat sich in einzelnen Märzwochen 2020 gegenüber dem Zeitraum August 2019 bis Januar 2020 bei Teig­waren um bis zu 150 Prozent, bei Mehl um bis zu 192 Prozent, bei Reis um bis zu 208 Prozent und bei Äpfeln um 65 Prozent erhöht. Spitzenreiter der Absatz-Anstiege sind jedoch nicht die Lebensmittel, sondern die Hygieneartikel: Seife stieg im gleichen Vergleichszeitraum um 337 Prozent, Toilettenpapier um 211 Prozent und Des­infektionsmittel eindrucksvoll gar um 751 Prozent. Es könnte sein, dass die Zeiten des deutschen Schlaraffenlandes vorbei sind. Im Jahr 2019 gaben deutsche Haushalte nur noch rund 14 Prozent der gesamten Konsumausgaben für Nahrungs­mittel, Getränke und Tabakwaren aus. Rein auf Lebens­mittel entfielen ca. 10 Prozent. Zum Ver­gleich: In Rumänien beträgt der Konsumanteil für Nahrung 30 Prozent. Durch die Corona-Krise werden jetzt die globale Produktion, der Transport und die Verarbei­tung von Lebensmitteln massiv erschwert. Beson­ders bei Waren, bei denen Deutschland einen niedrigen Selbstversorgungsgrad besitzt und welche deshalb stark importiert werden müssen, ist mit größeren Preisanstiegen zu rechnen. Dazu gehören insbesondere Obst und Gemüse, welche jedoch gerade für eine gesunde Ernährung von herausragender Bedeutung sind. Da bisher ungefähr ein Drittel der produzierten Lebensmittel in Deutschland im Müll landeten, ist zu vermuten, dass die höheren Lebensmittelpreise zu einer höheren Wertschätzung und damit zu nied­rigeren Verschwendungsraten beitragen werden. Wirklich problematisch ist die jetzige Versor­gungs­situation für Menschen mit sehr geringem Einkommen. Sie geben normalerweise etwa ein Drittel ihres Haushaltsbudgets für Essen aus. Viele Tafeln haben jedoch aktuell ihre Angebote stark zurückfahren oder ganz beenden müssen. Es mangelt an Lebensmittelspenden. Und vor allem an den vielen oft älteren ehrenamtlichen Helfern, die zur Corona-Risikogruppe zählen. Das Aussetzen des Schul- und Kita-Betriebs bedeutet für Kinder aus einkommensschwachen, problematischen Familien oft, dass mit der Schulspeisung auch die einzige tägliche warme Mahlzeit samt Tischgemeinschaft wegfällt. Angesichts dieser krisenhaften Entwicklung haben sich erfreulicherweise sehr schnell große Netze an ehrenamtlicher Nachbarschaftshilfe gebildet, die Lebensmitteleinkäufe für andere übernehmen. Außerdem boomen gewerbliche Lebens­mittel-Lieferdienste und aufgrund des Wegfalls der berufsbezogenen Gemeinschaftsverpflegungen kochen derzeit sehr viele Menschen zu Hause – eine Chance, seine Koch- und Haushaltsfähigkeiten gemeinsam mit den Kindern gezielt auszubauen. In der Corona-Krise wird vielen ansatzweise wieder die alte Kriegsweisheit bewusst: Geld kann man nicht essen!
Quelle: Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes zum Kaufverhalten im Einzelhandel anlässlich der Corona-Krise, Nr. 112 vom 25. März 2020, www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/03/PD20_112_61.html