Perspektiefe 51, September 2020
Ende der Vorsehung?
THEOLOGISCHE BETRACHTUNG: Zu den bedrängenden Erfahrungen in der Corona-Pandemie gehört der Kontrollverlust. Nachdem sich das Coronavirus SARS-CoV-2 in China, wo es zum ersten Mal auftrat, nicht erfolgreich eindämmen ließ, breitete es sich rasch über den ganzen Globus aus. Als Gegenmaßnahme verhängten viele Länder einen Lockdown. Doch trotz der teils drastischen Maßnahmen war das Virus nicht zu stoppen. In etlichen Ländern stieß das Gesundheitswesen rasch an seine Grenzen. Intensivstationen standen vor dem Kollaps, und täglich stieg die Zahl der Toten. Die Wirtschaft brach ein, Menschen verloren ihre Arbeit, Lebenspläne platzten.
von Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich H.J. Körtner, Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien„Das Streben nach absoluter Kontrolle erzeugt bisweilen die Gefahr eines Kontrollverlustes an anderer Stelle, der man durch zusätzliche Kontrollmechanismen zu begegnen sucht.“ Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich H.J. Körtner Man kann von einer neuen Erfahrung der Macht des Schicksals sprechen, aber auch davon, dass die Endlichkeit und Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens wie auch die Risikoanfälligkeit gesellschaftlicher Systeme in einer globalisierten und hochtechnisierten Weltgesellschaft neu ins Bewusstsein getreten ist. Dabei hat die Moderne ihren Siegeszug mit dem Versprechen angetreten, die Menschen von der Macht des Schicksals weitgehend zu befreien. Der Philosoph Odo Marquard hat die geschichtliche Entwicklung auf die Formel: „Vom Schicksal zum Machsal“ gebracht. Die Kräfte der Natur, zu der nun einmal auch Krankheitserreger gehören, wurden zunehmend unter menschliche Kontrolle gebracht und menschlichen Zwecken dienstbar gemacht. Wissenschaft und technischer Fortschritt haben weltweit zu einer dramatischen Verbesserung menschlicher Lebensverhältnisse geführt, auch zu einem deutlichen Anstieg der allgemeinen Lebenserwartung. Gefahren, die von Naturgewalten ausgehen, sind durch den Einsatz moderner Technik, aber auch durch eine vorsorgende Politik, durch Katastrophenschutz ebenso wie durch die Versorgungssysteme eines kontinuierlich ausgebauten Sozialstaats minimiert. Auch das moderne kapitalistische Wirtschaftssystem mit seinen globalen Lieferketten garantiert eine kontinuierliche Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen für eine wachsende Weltbevölkerung.
Der wissenschaftliche Fortschritt kann Schicksal nicht aus der Welt schaffen
Bei oberflächlicher Betrachtung kann der Eindruck entstehen, als habe Gott in der Moderne abgedankt. An die Stelle des Schöpfers, der alles so herrlich regiert, wie es in einem Kirchenlied heißt, ist der aufgeklärte Mensch getreten. Beim Gewitter vertraut man besser auf Blitzableiter als auf Gebete, und gegen Krankheitserreger wie das Coronavirus hilft die moderne Medizin. Statt auf Gott richtet die moderne Gesellschaft ihr Vertrauen auf die von ihr selbst geschaffenen Versorgungs- und Sicherheitssysteme. Diesen kann man freilich keineswegs blind vertrauen, sind sie doch, wie der Mensch, fehleranfällig. Moderne Technik ist risikoträchtig. Ihr Nutzen ist um den Preis von Gefahren erkauft, die von ihr ausgehen. Das trifft nicht nur auf die Atomtechnik zu, sondern auch auf die moderne Hochleistungsmedizin und die Biowissenschaften. Man denke nur an dem Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen in biotechnischen Labors. Die Nutzung natürlicher Ressourcen erfolgt noch immer um den Preis massiver Schädigungen der Umwelt. Die technische Zivilisation löst Probleme um den Preis, neue zu erzeugen, die sich jedoch wiederum nur durch Technik lösen lassen. Das Streben nach absoluter Kontrolle erzeugt bisweilen die Gefahr eines Kontrollverlustes an anderer Stelle, der man durch zusätzliche Kontrollmechanismen zu begegnen sucht. Der wissenschaftliche, technische und wirtschaftliche Fortschritt kann Schicksal und Zufall – die Erfahrung des Widerfahrnisses oder der Kontingenz – jedoch nicht aus der Welt schaffen. Gerade der Kampf gegen das Schicksal erzeugt neue Formen schicksalhafter Ereignisse, zum Beispiel, wenn die Dämme eines Stausees brechen, der zur Stromerzeugung und Regulierung von Flüssen angelegt worden ist. Der medizinische Fortschritt erzeugt Dilemmata und neue Krankheitsbilder, so etwa, wenn ein durch Intensivmedizin geretteter Patient ins Wachkoma fällt. Die Präimplantationsdiagnostik hilft, vorgeburtliche Gesundheitsrisiken abzuklären und gegebenenfalls zu behandeln, kann aber auch einen schwerwiegenden Schwangerschaftskonflikt auslösen. Odo Marquard spricht geradezu von der „Wiederkehr des Schicksals“. Um sie zu erleben, braucht es nicht erst das Coronavirus. Ganz allgemein werde „– im Zeitalter des schicksalsvernichtenden Machenseifers der Menschen – das Gutgemeinte nicht das Gute; das absolute Verfügen etabliert das Unverfügbare; die Resultate kompromittieren die Intentionen; und die absolute Weltverbesserung missrät zur Weltkonfusion.“ Ist das nun die Stunde der Religion und des Glaubens, weil Menschen fragen, wo sie noch Halt finden können, wenn alles ins Wanken gerät? Kommt der verdrängte und totgesagte Gott ins Spiel, wenn die moderne Gesellschaft außer Kontrolle zu geraten droht? Meldet er sich durch ein Virus zurück, um der gottvergessenen Menschheit eine Lektion zu erteilen? Übernimmt er das Kommando, wenn den Menschen ihr Leben außer Kontrolle gerät? Oder zieht er ohnehin immer die Fäden hinter den Kulissen des großen Welttheaters, ohne dass es die Menschen immer bemerken? Es gehört zu den christlichen Glaubensüberzeugungen, dass Gott die Welt nicht nur erschaffen hat, sondern auch fortlaufend erhält und ihre Geschicke wie das jedes einzelnen Menschen lenkt. Traditionellerweise spricht man von Gottes Vorsehung. Mit ihrer Hilfe versucht der Glaube eine Antwort darauf zu geben, warum es trotz Gottes Güte und Liebe in der Welt Leiden und das Böse gibt. Gott, so lautet die traditionelle Antwort, lässt beides zu, aber er dämmt es auch ein und lenkt die Weltgeschicke so, dass selbst aus Bösem noch Gutes entstehen kann. Die klassische Bibelstelle dafür ist der Satz, den Josef am Ende der Josefserzählung an seine Brüder richtet: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen (2. Mose 50,20).„Ich glaube, daß Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im Voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen.“ Dietrich Bonhoeffer (Foto: Privatbesitz)