Perspektiefe 51, September 2020

Gefangen in der Risikowahrnehmungsgesellschaft – In Risikokompetenz investieren

HINTERGRUND: Das Revolutionäre im Vergleich zur Wahrnehmung von Chance und Risiko sowie von Vergangenheit und Zukunft in der klassischen Antike und im Mittelalter ist die Vorstellung der Neuzeit von einer Zukunftssteuerung von Risiken (und Chancen). Das bedeutet, dass die Zukunft nicht nur göttlichen Launen entspringt, sondern Menschen die Zukunft aktiv durch ihr Handeln beeinflussen können. Die Wurzeln der modernen Auffassung von Risikomanagement liegen in der Zeit der Renaissance, als der Mensch sich von den Fesseln der Vergangenheit befreite und tradierte Meinungen und religiöse Vorstellungen offen in Frage stellte. Damit entfiel auch die leitende Orientierung religiösen Vertrauens. Die Zukunft wurde zum Risiko.

von Frank Romeike, geschäftsführender Gesellschafter der RiskNET GmbH und Autor einiger Standardwerke zum Risikomanagement
„Viele Akteure in Politik und Wirtschaft haben schlicht und einfach die Wetter­warnungen ignoriert und es ver­säumt, Rettungsboote zu bauen. Denn Ret­tungs­boote sollten nicht erst im Sturm gebaut werden.“ Frank Romeike Etymologisch kann der Begriff Risiko auf das lateinische risco (für „die Klippe“) und das griechische „????“ („rhíza“) für „Wurzel“ zurückverfolgt werden. Sowohl eine zu umschiffende „Klippe“ als auch eine aus dem Boden herausragende „Wurzel“ kann ein Risiko darstellen. An dieser Definition hat sich bis heute nicht viel geändert. Der deutsche Begriff des Risikos wird umgangssprachlich als ein möglicher ne­gativer Ausgang bei einer Unternehmung verstanden – mit möglichen Nachteilen, Verlusten oder Schäden. Von Risiken spricht man nur, wenn die Folgen ungewiss sind.

Wetterwarnungen ignoriert und keine Rettungsboote gebaut

Ein wirksames Risikomanagement beschäftigt sich mit dem Antizipieren von „Überraschungen“ in der Zukunft. Daher sollte man sich bei der Analyse neuer Risikoszenarien nicht auf einen Blick in den Rückspiegel verlassen – die Zukunft ist kein Spiegel der Vergangenheit. In der Risiko­forschung ist seit Langem bekannt, dass Men­schen systematisch die schmerzhaften Folgen von Extremereignissen unterschätzen. Die Gründe hierfür sind bekannt: Wir denken in schlüssigen Geschichten, verknüpfen Fakten zu einem stimmigen Bild, nehmen die Vergangenheit als Modell für die Zukunft. So schaffen wir uns eine Welt, in der wir uns zurechtfinden. Aber die Wirklichkeit ist anders: chaotisch, komplex, überraschend und häufig unberechenbar. Oftmals ist für diese Fälle die Vergangenheit ein sehr schlechter Berater und führt zu einer eingeschränkten, vernebelten und zum Teil falschen Sicht. Auch ein Autofahrer sollte sein Gefährt nicht über einen Blick in den Rück­spiegel steuern – kein Mensch würde auch nur auf die Idee kommen, so zu agieren. So liefert uns die durch das Coronavirus SARS-CoV-2 verursachte COVID-19-Pandemie einerseits ein eindrückliches und andererseits auch schmerzhaftes Beispiel für Risikoblindheit, schiefe Risikowahrnehmung und fehlende Risiko­kompetenz bei Verantwortlichen im Staat sowie bei vielen Unternehmenslenkern. Eine Pandemie war ein Ereignis, das mit Gewissheit irgendwann eintreffen wird. Die einzige Unbekannte war der genaue Zeitpunkt – aber eben gerade nicht das Ereignis. Risikomanagement sollte genau solche Stressszenarien antizipieren und präventive Maß­nahmen definieren, damit Organisationen oder auch Staaten in der stürmischen See nicht untergehen. Viele Akteure in Politik und Wirtschaft haben schlicht und einfach die Wetterwarnungen ignoriert und es versäumt, Rettungsboote zu bauen. Denn Rettungsboote sollten nicht erst im Sturm gebaut werden. Infektionsrisiken und Pandemien bereiten Wissenschaftlern sowie weitsichtigen und seriös arbeitenden Risikomanagern seit vielen Jahren schlaflose Nächte (wie übrigens auch das Sze­nario eines „Blackouts“ oder das Szenario eines globalen Finanzkollapses). Der exzellente Statis­tiker, Risikoforscher und Professor für internationale Gesundheit, Hans Rosling, hatte bereits vor vielen Jahren auf die fünf globalen Risiken hingewiesen, die uns beunruhigen sollten. Als Top-Risiko beschreibt er in seinem Buch „Factfulness“ das Risiko einer globalen Pandemie.¹ Der im Jahr 2010 verstorbene französische Mathematiker Benoît B. Mandelbrot kritisierte immer wieder den unprofessionellen Umgang mit Risiken und Unsicherheit. Basierend auf seinen Analysen sind die meisten Risikomanagement-Systeme blind für Extremereignisse. Mandelbrot wies darauf hin, dass Risiken falsch gemessen werden und schmerzhafte „Worst case“-Szenarien ausgeblendet würden: „Jahrhunderte hindurch haben Schiffbauer ihre Rümpfe und Segel mit Sorgfalt entworfen. Sie wissen, dass die See in den meisten Fällen gemäßigt ist. Doch sie wissen auch, dass Taifune aufkommen und Hurrikane toben. Sie konstruieren nicht nur für die 95 Pro­zent der Seefahrttage, an denen das Wetter gutmütig ist, sondern auch für die übrigen fünf Prozent, an denen Stürme toben und ihre Ge­schicklichkeit auf die Probe gestellt wird.“ Doch Politiker und Un­ternehmenslenker verhalten sich nicht selten wie Seeleute, die keine Wetter­warnungen beachten.

Die Risiken verstecken sich im komplexen System

Die Welt des Unbekannten und der großen Über­raschungen kann alternativ auch mit der Metapher des Lebens im Dorf und dem unbekannten Dschungel – der das Dorf umgibt – beschrieben werden (vgl. Abbildung 01). Innerhalb des Dorfes – umgeben von einem Zaun – fühlen wir uns sicher und haben die wesentlichen Risiken im Griff. Wir können die Risiken des normalen Dorflebens (beziehungsweise Geschäftsbetriebs) mithilfe von statistischen Methoden relativ gut bewerten. Wir sammeln statistische Daten über die Risiko­ursachen und -wirkungen. Doch wie wird das Risikomanagement jenseits des Dorfzauns aussehen? Möglicherweise verbringen wir ein Prozent unserer Zeit jenseits des Zauns. Dort im Dschun­gel lauern unbekannte Risiken. Viele Menschen konzentrieren sich aus­­schließ­lich auf die Risiken in ihrem unmittelbaren Umfeld und blenden die Risiken jenseits des Dorfzauns aus. Dies führt dazu, dass beispielsweise aktuell die großen geopolitischen Themen (beispielsweise die humanitäre Katastrophe im Jemen oder die Ter­ritorialkonflikte im Chine­si­schen Meer) in einer egoistisch geprägten Pan­demie-Diskussion un­tergehen. Ein Risikomanagement für den Dschungel muss anders aussehen als das für das Dorf: Es wäre beispielsweise sinnvoll, wenn die Dorfbe­wohner mithilfe von Kreativitätsmethoden versuchen würden, potenzielle (Stress-)Szenarien zu identifizieren („Welche Überraschungen könnten uns im Dschungel begegnen? Welche Maßnah­men könnten mich schützen?“ [vgl. vertiefend zu konkreten Methoden Romeike/Hager 2020 sowie Romeike 2018]. Hierbei muss auch beachtet werden, dass Risiken in komplexen Systemen, wie etwa eine Pandemie, durch Nichtlinearität gekennzeichnet sind. Dies bedeutet, dass kleine Störungen des Systems oder minimale Unter­schiede in den Anfangsbedingungen häufig zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen (Schmetter­lingseffekt, Phasenübergänge) führen können. Auch hierfür hat uns die COVID-19-Pandemie (und auch die letzte Finanzkrise) ein reales Sze­na­rio geliefert. Wie ein Tsunami haben die Lock­down-Maßnahmen die globalen Wertschöpfungs­netze zum Stillstand gebracht. Die sozialen, psychologischen und wirtschaftlichen Folgen sowie deren Interaktionen und die komplexen Wirkungs­mecha­nismen der billiardenschweren Rettungspakete werden erst in einigen Jahren absehbar sein.

Aus der Zukunft lernen

Ein Risikomanagement-Prozess funktioniert ähnlich dem menschlichen Organismus oder anderer Netzwerkstrukturen in der Natur. In einem mensch­lichen Organismus arbeiten Gehirn, Herz und Nervensystem zusammen. Übertragen auf den Prozess des Risikomanagements bedeutet dies, dass verschiedene Sensoren und Sinne (etwa Auge, Ohr oder Nerven) die Risiken aufnehmen und sie an eine zentrale Stelle weiterleiten (Gehirn bzw. Risikomanager). Und insgesamt entscheidet die strategische Ausrichtung des Systems (Un­ter­nehmens) sowie der vorhandene Risikoappetit über präventive und reaktive Maßnahmen bei der Risikosteuerung. Ein vereinfachter Risikomanage­ment-Prozess ist in Abbildung 02 dargestellt. Die Systemtheorie bietet uns hier einen An­satz, um ein System interdisziplinär zu analy­sieren. So können beispielsweise biologische Zellen, der Mensch insgesamt, eine Organisation, ein Staat, aber auch Computernetzwerke als Systeme betrachtet und systemtheoretisch beschrieben werden. Die Systemtheorie „blickt über den Teller­rand“ einer Einzeldisziplin und hat immer schon das Ziel verfolgt, der Zersplitterung des Wissens in den wissenschaftlichen Disziplinen entgegen­zuwirken. Auch hier liefert uns der Umgang mit der COVID-19-Pandemie ein aktuelles Beispiel, wie man Risikoszenarien eben gerade nicht bewertet. Denn für eine seriöse Risikobewertung ist immer eine multidisziplinäre Analyse aller Wirkungen erforderlich und keine monodisziplinäre Bewer­tung – basierend auf der Meinung einzelner „Viro­logen“ und „Experten“.

Was sind die Erfolgsfaktoren?

Grundsätzlich existieren vier Erfolgsfaktoren, damit ein Risikomanagement wirksam ist und einen Mehrwert stiftet. 1. Risikomanagement muss gelebt werden („Risiko- und Fehlerkultur“). Hierbei geht es vor allem um die Frage, wie wir im Unternehmen mit Fehlern und Risiken umgehen. Vielfach gelten Fehler und Risiken als etwas Schlechtes, das wir tunlichst vermeiden müssen. Dabei sind Fehler und Risiken immer dann am nützlichsten, wenn alle davon lernen. 2. Risikomanagement benötigt einen Prozess in Form eines kontinuierlichen Regelkreises. 3. Risikomanagement muss in eine Organisation eingebettet werden, interdisziplinär ausgerichtet sein und darf keinesfalls als isoliertes „Silo“ betrachtet werden. 4. Risikomanagement basiert auf adäquaten und auf die Fragestellung angepassten Methoden. Die Werkzeugkiste des Risikomanagements ist gut befüllt. Politik und Unternehmen sollten sich hierbei vor allem auf Methoden konzentrieren, die ein „Lernen aus der Zukunft“ ermöglichen.

Risikokompetenz ausbauen

Immer wieder wird von Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft der „Schwarze Schwan“ als Entschuldigung für die eigenen Fehler und un­zureichend ausgeprägten Antizipationsfähigkei­ten potenzieller Überraschungen herangezogen. Schwarze Schwäne waren bis zum 17. Jahrhun­dert in Europa unbekannt. Erst nach der Ent­deckung des ersten schwarzen Schwans in West-Australien wurde die „objektive“ Wahrheit, dass alle Schwäne weiß sind, widerlegt. Übrigens geht das Bild vom „Schwarzen Schwan“ als gänzlich unerwartetes Ereignis auf den römischen Satiren­dichter Juvenal zurück, der im 1. und 2. Jahrhun­dert gelebt hat. Die COVID-19-Pandemie hat einmal mehr bestätigt, was in der Risikoforschung seit vielen Jahrzehnten bekannt war: Es mangelt bei den Verantwortlichen im Staat, bei vielen Unterneh­menslenkern und vielen Menschen an der notwendigen Risikokompetenz. Es fehlt an der Fähig­keit, die bei einer unsicheren Zukunft vielfältigen Chancen und Gefahren (Risiken) adäquat einzuschätzen und diese in den eigenen Entschei­dungen und Handlungen zu berücksichtigen. Die Risikokompetenz beinhaltet die Fähigkeit, informiert, kritisch und reflektiert mit bekannten und auch bisher unbekannten Risiken der modernen Welt umzugehen und diese zu antizipieren. Dies beinhaltet u. a. statistisches und heuristisches Denken sowie systemisches und psycho­logisches Wissen. Ein Leben ohne Risiko gab es noch nie und wird es auch nie geben. Doch wer Chancen – als die Kehrseite der Gefahr – ergreift und Risiken gut antizipieren und steuern kann, ist für die Zukunft besser gewappnet. Um Risiken fundierter und besser beurteilen zu können, sollte man sein eigenes Können realistisch einschätzen, langfristig denken und vor allem Informationen und Zahlen kritisch hinterfragen. Die Alternative ist dem Her­dentrieb zu folgen und sich einem medialen und politischen Wechselbad von Dramatisierungen und Verharmlosungen auszuliefern. Fakt ist, dass wir zu viele Ressourcen für Risi­ken verschwenden, die eher trivial sind. Andere systemische Risiken, die für uns und unsere Nachwelt von zentraler Bedeutung sind, werden hingegen ausgeblendet. So ist seit dem 18. Jahr­hun­dert unsere Lebens­er­wartung kontinuierlich angestiegen. Die Chan­cen, deutlich älter als achtzig Jahre alt zu werden, wachsen von Jahr zu Jahr. Dennoch geben die befragten Menschen regelmäßig in Studien an, ein risi­ko­reiches Leben zu füh­ren. Hierbei wird von den Befragten nicht selten ausgeblendet, dass die primären Risikotreiber (Rauchen, falsche Ernährung, mangelnde Bewe­gung, Alkohol) von den Menschen selbst ge­steuert und beeinflusst werden können. Menschen lassen sich immer wieder von Katas­trophenmeldungen in den Medien und einer nicht ausgewogenen Risikokommunikation beeinflussen. So sind sie im Glauben gefangen, das Leben sei eine einzige Abfolge bedrohlicher Ereignisse. Sie ängstigen sich zu Tode und sind im Glauben gefangen, dass beispielsweise in der Folge von COVID-19 das Ende der Menschheit bevorsteht. Und Medien und Politik befeuern diese schiefe Risikowahrnehmung durch eine nicht faktenbasierte Risikokommunikation, die sich zudem noch von Tag zu Tag verändert. Dies führt vor allem zu Unsicherheit. Und Unsicherheit erzeugt Angst. Und ein gefühlter Kontrollverlust führt zu noch mehr Angst und in der Folge zu völlig irrationalen Entscheidungen. Unsere Furcht vor vielen Risiken verrät vor allem einen Mangel an Realitätssinn in unserer Risikowahrnehmungsgesellschaft. Dies führt in der Konsequenz zu dem Ergebnis, dass das Augen­maß für eine objektive Wahrnehmung der Risiken verloren geht. Je mehr wir in Risiko­mün­dig­keit investieren, desto größer ist die Chance, dass wir aus der Falle der Risikowahr­nehmungs­gesellschaft ausbrechen können.



¹ Es folgen auf den Plätzen 2 bis 5 die folgenden Risiken: Kollaps des komplexen Finanzsystems, Dritter Weltkrieg, Klimawandel, extreme Armut.

Weiterführende Literatur:

Erben, R./Romeike, F. (2016): Allein auf stürmischer See – Risikomanagement für Einsteiger, 3. Auflage, Wiley Verlag, Weinheim 2016. Romeike, F. (2018): Risikomanagement, Springer Verlag, Wiesbaden 2018. Romeike, F./Hager, F. (2020): Erfolgsfaktor Risikomanagement 4.0: Methoden, Beispiele, Checklisten – Praxishandbuch für Industrie und Handel, 4. komplett überarbeitete Auflage, Springer Verlag, Wiesbaden 2020.