Perspektiefe 52, Dezember 2020

Corona und die soziale Frage

HINTERGRUND: Selten ist so viel über die soziale Ungleichheit gesprochen worden wie in der Covid-19-Pandemie, die sie deutlicher hervortreten ließ und teilweise noch verschärft hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Ungleichheit hierzulande nie höher als gegenwärtig. Das gilt vor allem mit Blick auf die Vermögen, deren existenzsichernde Bedeutung während des Lockdowns nicht zu übersehen war.

von: Prof. Dr. Christoph Butterwegge, bis 2016 Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Kürzlich erschien sein Buch „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“.
„Unsozial ist nicht das neuartige Corona-Virus, sondern eine reiche Gesellschaft, die ihre armen Mitglieder zu wenig vor einer Infek­tion und den sozialen Verwerfungen der Pandemie schützt.“ Prof. Dr. Christoph Butterwegge Nach den neuesten Daten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ent­fallen 67 Prozent des Nettogesamt­ver­mögens auf das oberste Zehntel der Verteilung, 35 Prozent konzentrieren sich beim reichsten Pro­zent der Bevölkerung und das reichste Promille kommt immer noch auf 20 Prozent des Netto­ge­samtvermögens. Die 45 reichsten (Unternehmer-)Familien besitzen inzwischen mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung – immerhin über 40 Mil­lionen Menschen.40 Prozent der Bevölkerung haben laut DIW-An­gaben kein nennenswertes Vermögen, leben also – zugespitzt formuliert – von der Hand in den Mund und sind nur einen Lockdown, eine schwere Krankheit oder eine Kündigung von der Armut ent­­fernt. Nach den Maßstäben der Europäischen Union waren im Jahr 2019 hierzulande 13,4 Mil­­lio­nen Menschen von Einkommensarmut betroffen oder bedroht. Sie hatten weniger als 60 Pro­zent des bedarfsgewichteten mittleren Haus­­halts­­netto­einkommens zur Verfügung, was für Alleinste­hen­de 1.074 Euro im Monat entsprach. Mit 15,9 Pro­­zent er­reichte die Armuts(risiko)quote einen Rekord­stand im vereinten Deutschland, obwohl sie in den östlichen Bundesländern nach Einfüh­rung des gesetzlichen Mindestlohns ge­sunken war.Die höchsten Armutsrisiken wiesen Erwerbs­lose (57,9 Prozent), Alleinerziehende (42,7 Prozent) und Nichtdeutsche (35,2 Prozent) auf. Kinder, Ju­gendliche und Heranwachsende waren ebenfalls stark betroffen, während das Armutsrisiko der Se­nioren seit geraumer Zeit am stärksten zunimmt. Wenn die wirtschaftliche Ungleichheit extreme Aus­maße annimmt, führt sie zu sozialen Verwer­fungen und zu einer politischen Schieflage, unter welcher die Demokratie erdrückt zu werden droht.

Pandemien als Katalysatoren der sozialen Polarisierung

Was die sozioökonomische Ungleichheit angeht, haben Seuchen in der Vergangenheit teilweise nivellierend oder egalisierend gewirkt, wenn auch meistens nur für kurze Zeit. Die mittelalterliche Pest beispielsweise schuf einen gewissen sozialen Ausgleich, weil sie Angehörige aller Stände traf: Während anschließend die Löhne wegen eines akuten Arbeitskräftemangels stiegen, wurden Lebensmittel, Grund und Boden sowie Immo­bilien aufgrund fehlender Käufer*innen billiger. Die heute weitgehend vergessene Polio-Pandemie der 1950er-Jahre traf sogar hauptsächlich Kinder eher wohlhabender Familien, die weniger Abwehrkräfte gegenüber dem Virus besaßen. Die bakteriell bedingten Epidemien des 19. Jahrhunderts – Cho­lera, Tuberkulose und Typhus – forderten ihre Opfer hingegen fast ausschließlich in den Armenvierteln der Industriestädte. Mit ihnen hat die Covid-19-Pandemie gemeinsam, die Immun- und Finanz­schwächsten am stärksten zu treffen. Corona gleicht am ehesten der Cholera, weil die Covid-19-Pandemie hauptsächlich die Armen trifft und die Reichen davon teilweise sogar profitieren. Obwohl sich die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vertieft hat, ist SARS-CoV-2 kein „Ungleichheitsvirus“, trifft es doch auf Wirtschafts­strukturen, Eigentumsverhältnisse und Vertei­lungs­mechanismen, die aus ihm den Katalysator eines gesellschaftlichen Polarisierungsprozesses und der Krise des Sozialen machen. Unsozial ist nicht das neuartige Corona-Virus, sondern eine reiche Gesellschaft, die ihre armen Mitglieder zu wenig vor einer Infektion und den sozialen Ver­werfungen der Pandemie schützt.

Hauptleidtragende der Covid-19-Pandemie sind die Armen

Sozial bedingte Vorerkrankungen wie Asthma, Rheuma oder Raucherlunge, katastrophale Arbeitsbedingungen wie in der Fleischindustrie und hygienisch bedenkliche Wohnverhältnisse wie in den Gemeinschaftsunterkünften von (Senioren-)Heimbewohner(inne)n, Strafgefangenen, Geflüch­te­­ten, Werkvertragsarbeiter(inne)n der Groß­schlach­tereien oder Saisonarbeiter(inne)n in der Landwirtschaft erhöhen das Risiko für eine In­­fektion mit dem Corona-Virus sowie für einen schweren Krankheitsverlauf. Bisher galt wegen der niedrigen Lebenserwartung von Armen, die rund zehn Jahre unter der von Wohlhabenden und Reichen liegt, die zynische Faustregel: Wer arm ist, muss früher sterben. Seit der Covid-19-Pan­demie kann man sie wegen des sozial gestaffelten Infek­tionsrisikos abwandeln: Wer arm ist, muss eher sterben. Während der pandemischen Ausnahme­situa­tion wurde deutlich wie selten, dass trotz eines verhältnismäßig hohen Lebens- und Sozial­stan­dards im Weltmaßstab sowie entgegen allen Be­teuerungen von etablierten Parteien und Mas­sen­medien, die Bundesrepublik sei eine „klassenlose Gesellschaft“ mit gesicherter Wohlständigkeit all ihrer Mitglieder, ein großer Teil der Bevölkerung nicht einmal für wenige Wochen ohne seine Re­gel­einkünfte auskommt. Je höher die berufliche Position bzw. der so­ziale Status eines Menschen ist, umso leichter kann er auch zuhause arbeiten, denn es geht in diesem Fall eher um eine Bürotätigkeit am Bild­schirm. Für die eher schlecht entlohnten Straßen­bauarbeiter, Handwerker und Hebammen existiert diese Möglichkeit bekanntlich nicht. Im digitalen Homeoffice ließ sich das Betreuungs­problem leichter lösen, welches entstand, als Kindertages­stätten, Schulen und Pflegedienste schlossen. Während hauptsächlich Erwerbstätige im oberen Einkommensbereich und mit einem hohen Bil­dungsabschluss darauf zurückgreifen konnten, fehlte Beschäftigten im Niedriglohnsektor diese Möglichkeit, sich um ihre Kinder oder pflege­bedürftige Angehörige zu kümmern, fast durchgängig. Beschäftigte mit geringem Einkommen und niedrigem Bildungsstand hatten daher bei der Arbeit auch ein höheres Ansteckungsrisiko.

Hedgefonds und Finanzkonglomerate profitieren von der Krise. (Foto: Dan Race, AdobeStock)

Privater Reichtum und öffentliche Armut

Gleich nach ihrem Beginn brachen die Aktienkurse in Deutschland wie an sämtlichen Börsen der Welt vorübergehend ein, dramatische Verluste erlitten aber vor allem Kleinaktionäre, die generell zu Pa­nikreaktionen und überhasteten Verkäufen neigen. Hedgefonds und Finanzkonglomerate wie Black­Rock wetteten hingegen sogar mittels Leerver­käufen erfolgreich auf fallende Aktienkurse und verdienten an den Einbußen der Kleinanleger. Groß­investoren dürften die Gunst der Stunde außerdem für Ergänzungskäufe zu relativ niedrigen Kursen genutzt und davon profitiert haben, dass der Kurstrend in Erwartung eines generösen staat­lichen Konjunkturprogramms bald wieder nach oben zeigte. Infolge der Corona-Krise sind wahrscheinlich mehr Girokonten von Soloselbstständigen, Kleinst­­unternehmern, prekär Beschäftigten und Kurz­arbeitern ins Minus gerutscht, weshalb gerade die finanzschwächsten Kontoinhaber hohe Dispo- und Überziehungszinsen zahlen mussten. Da­durch wurden jene Personen, denen die Ban­ken oder Anteile daran gehören, noch reicher. Ver­gleich­bares gilt für die Kassen- bzw. Liqui­di­täts­kredite überschuldeter Kommunen, die geringere Gewerbesteuereinnahmen, aber höhere Sozial­ausgaben als vor der Covid-19-Pandemie hatten. Daher hat die öffentliche Armut zugenommen, während der private Reichtum weniger Hoch­vermögender gestiegen ist. Unter dem Eindruck der Krise, die zu Einkom­mensverlusten durch Kurzarbeit, Geschäfts­auf­gaben und Arbeitslosigkeit geführt hat, kauften mehr Familien bei Lebensmittel-Discountern ein, um Geld zu sparen, wodurch die Besitzer von Ladenketten wie Aldi Nord und Aldi Süd, die ohnehin zu den vermögendsten Deutschen gehören, noch reicher geworden sein dürften. Schon vorher wurde das Privatvermögen von Dieter Schwarz, dem Eigentümer von Lidl und Kaufland, mit 41,5 Milliarden Euro veranschlagt.