Perspektiefe 52, Dezember 2020

Hast Du mal ein Ei für mich? Auswirkungen durch Corona auf das soziale Miteinander

ERFAHRUNGSBERICHT: Die Corona-Pandemie hat vielen einen Schrecken eingejagt. Manche Gewissheit wurde abrupt zerstört. Was niemand von uns ahnte, trat plötzlich zutage und hat unsere Realität verändert. Das gesamte Ausmaß mit allen wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen ist noch lange nicht absehbar, aber offensichtlich ist: Das Virus, bzw. die Angst vor der Ansteckung verändert vieles – auch den zwischenmenschlichen Kontakt.

von: Stefan Gillich, Leiter der Abteilung Existenzsicherung, Armutspolitik, Gemeinwesendiakonie der Diakonie Hessen
„Wir sind gewisser­ma­ßen evolutionär da­rauf getrimmt, Nähe zu suchen. Doch was passiert, wenn diese Nähe fehlt? Wer längere Zeit isoliert ist, weist eine geringere psy­chi­sche Widerstands­kraft gegen Stress auf.“ Stefan Gillich Plötzlich können sich Familien nicht mehr in der herkömmlichen Form begegnen, Enkel dürfen ihre Großeltern nicht mehr besuchen, Schulkinder müssen ganztags zuhause beschäftigt und gebändigt werden, in Kindertages­stätten wird ein Betretungsverbot eingeführt, in Altenheimen und Pflegeeinrichtungen gibt es Besuchsverbote, Covid-Erkrankte müssen in vielen Fällen ohne familiären Beistand zurechtkommen, Tafeln schließen, da freiwillig Engagierte ihr Engagement einstellen (müssen), Gottesdienste werden nur noch digital abgehalten, Tages­aufent­halte für wohnungslose Menschen müssen schließen oder gewähren lediglich begrenzten Einlass. Selbstverständlichkeiten lösen sich auf: Der Besuch beim Nachbarn, das Treffen mit Freunden oder im Verein, der Austausch im Stadtteilzentrum. Was eben noch Stabilität, Sicherheit und Nähe geboten hat, trägt nicht mehr. Zurück bleiben Unsicherheit und Ungewissheit – und das Ende ist noch nicht abzusehen.Wie sich beispielsweise Kontaktsperren in Alten- oder Pflegeeinrichtungen, in Kranken­häusern o. Ä. auswirken, hängt immer auch mit Personen und ihrem je eigenen Erleben zusammen. Das kann sehr unterschiedlich und schwerwiegend sein. Ich habe erlebt, dass ein Freund in der Anfangsphase der Pandemie an Covid-19 erkrankt ist und auf der Intensivstation über einen längeren Zeitraum behandelt wurde. Ich habe erlebt, dass ihn nicht einmal die Familienangehörigen besuchen durften, die der Situation ebenso ohnmächtig ausgeliefert waren und letztlich keinen persönlichen Abschied nehmen konnten. Ein­richtungen bewegen sich zwischen Infektions­schutz und Vermeidung sozialer Isolation. Not­wen­dige Abstands- und Hygieneregeln auf der einen Seite, um gesund zu bleiben; soziale Iso­la­tion auf der anderen Seite. Das Dilemma lässt sich nicht auflösen. Gerade für viele ältere Men­schen ist das nicht verständlich. Warum dürfen wir uns nicht frei bewegen? Es sind für alle schwer­wie­gende Entscheidungsprozesse.

Selbst Tafeln stehen nicht mehr uneingeschränkt zur Verfügung

Vor dem Virus sind aber nicht alle gleich. Wer arm ist, ist in der Krise noch ärmer dran als der Rest. Über zehn Jahre Konjunktur-Dauerhoch haben es nicht vermocht, die Armutsquote nennenswert zu senken. Seit Ende der Neunzigerjahre hat die Ar­mut um fast 50 Prozent zugenommen, während die Zahl der Millionäre sich mehr als verdoppelt hat. Existenzielle Alltagssituationen werden für Per­sonen, die in Armut leben, in der Krise noch bedrohlicher, als sie es ohnehin schon sind. Durch die Corona-Krise werden Lebensmittel für Arme immer unerschwinglicher. Durchschnittlich fast zehn Prozent mehr mussten Verbraucher*innen im April – im Vergleich zu 2019 – für frische Lebens­mittel bezahlen. Selbst Tafeln als Notlösung stehen nicht mehr in gleichem Maße wie zuvor zur Verfügung. Viele ältere Menschen suchen auch aus Angst vor Ansteckung die Tafeln nicht mehr auf. Dadurch verlieren sie weitere soziale Kon­takte, mit allen psychosozialen Folgen wie Ver­einsamung und Depressionen. Gerade ältere und mobilitätseingeschränkte Personen können auch in einem eventuell wieder auftretenden Wettlauf bei Hamsterkäufen nach einer möglichen Kri­senverschärfung in kälteren Jahreszeiten nicht mithalten: Billige Produkte sind als Erstes aus­verkauft und teure Markenprodukte können sie sich nicht leisten. Abstand halten, Hygiene beachten, Alltags­maske tragen sowie regelmäßiges Lüften ist die Devise, um die Verbreitung des Corona-Virus zu verlangsamen. Wie soll Hygiene beachtet werden, wenn man kein Zuhause hat? Was tun, wenn der Schlafplatz unter der Brücke ist? Wo hingehen, wenn die Tagesaufenthalte das Angebot verringert haben und der Austausch mit anderen kaum noch möglich ist? Das Konstrukt der vorübergehenden Unterkunft bei Bekannten oder Verwandten ist in Corona-Zeiten zusätzlich bedroht. Menschen ohne Wohnung sind physisch und psychisch erheblich stärker belastet als der Rest der Bevölke­rung. Noch ist nicht sicher, ob Wohnungslosigkeit durch die Krise deutlich steigen wird, eins ist aber sicher: Der nächste Winter kommt bestimmt. Da sind auch all jene, deren berufliche und finanzielle Zukunft existenziell bedroht ist. Da sind Menschen, die alleine leben und mit der Ein­samkeit schwer zu kämpfen haben. Auch für psychisch vorbelastete Menschen, die schon vor der Krise auf wackeligem Boden standen, ist die Situation quasi ein „Potenzierer“ ihrer Leidens­zustände. Ebenso verhält es sich bei schon länger bestehenden Familien- oder Beziehungs­proble­men, welche nun vermehrt zu Konflikten führen, die nur schwer befriedet werden können. Bera­tungsstellen berichten, dass häusliche Gewalt zunimmt. Die Corona-Krise macht innerpsychische und zwischenmenschliche Bruchstellen sicht- und oft schmerzlich spürbar. Doch es gibt auch andere Erfahrungen: Dass Familien näher zusammengerückt sind, dass Vä­ter mehr Zeit gefunden haben, sich um die Kinder zu kümmern, dass in der Familie ein kreativer Umgang des Miteinanders gefunden wurde.

Isolation schwächt die Widerstandsfähigkeit

Der Mensch ist nicht fürs Alleinsein gemacht. Dass unsere Art bis heute überlebt hat, verdankt sie ihrer Fähigkeit, sich zusammenzutun, sich gemeinsam vor Gefahren zu schützen, zu kooperieren. Und natürlich: sich fortzupflanzen, um den Erhalt der Art zu sichern. Wir sind gewissermaßen evolutionär darauf getrimmt, Nähe zu suchen. Doch was passiert, wenn diese Nähe fehlt? Wer längere Zeit isoliert ist, weist eine geringere psychische Widerstandskraft gegen Stress auf. Das zeigt sich auch bei anderen sozialen Lebewesen: Tiere, die isoliert aufwachsen oder zu einem späteren Zeitpunkt von ihren Artgenossen getrennt werden, zeigen währenddessen, aber auch danach eine verminderte Stresstoleranz. Das heißt: Treten Situationen auf, die diese Individuen bedrohen, haben sie dieser Bedrohung weniger ent­gegenzusetzen. Beim Menschen ist es ähnlich: Iso­la­tion ist ein Risikofaktor für eine ganze Reihe an psychischen, aber auch körperlichen Er­krankungen. Die Corona-Krise wirft die Menschen auf sich selbst zurück. Verantwortlicher Kontakt mit anderen Menschen als der eigenen Familie ist in der Quarantäne oft nur durch das Internet möglich. Für unser Sozialleben wird das Medium auch danach wichtiger werden. Ergänzend werden oft Telefonate oder Videoanrufe genutzt, um Kontakt zu halten. Einander zu hören oder auf dem Display zu sehen, ist eine gute Möglichkeit, trotz der Entfernung eine emotionale Verbundenheit zu spüren. Trotzdem ist klar, dass ein Telefonat die persönliche Begegnung nicht ersetzen kann. Das Beispiel Corona-Warn-App zeigt, dass die Krise von der Mitte der Gesellschaft her gedacht und diskutiert wird: Arme können sich Handys, auf denen diese App läuft, oft nicht leisten. Manche können sich überhaupt kein Handy leisten und viele ältere Menschen kommen mit der digitalen Welt nicht mehr zurecht.

Digitale Bildung für Kinder aus armen Familien kaum möglich

Digitale Bildung ist ein Megatrend für unsere Zukunft und in Zeiten von wachsendem digitalem Unterricht als Folge von Corona für die Perspek­tiven einer ganzen Generation unverzichtbar. Wenn in landauf-landab verkündeten Digitalpakten sich allerdings Eltern im Hartz-IV-Bezug an der Anschaffung von Tablets für den Unterricht beteiligen sollen, egal ob im Kauf- oder Mietverfahren, ist das Ignoranz. Hartz-IV Bezieher*innen wissen angesichts deutlich steigender Lebensmittelpreise kaum, wie sie sich und ihre Kinder einigermaßen gesund ernähren können. Da bleibt für digitale Bildung nichts übrig.Wir stehen weiter vor der Herausforderung, wie es gelingt, Schutzkonzepte so zu entwickeln, dass sie nicht Vereinsamung, Selbstüberlassung und damit den rapiden Anstieg anderer Lebens­risiken bewirken. Soziale Teilhabe darf nicht suspendiert werden, für keine Altersgruppe. Der Schlüssel liegt in der Begegnung, notwendigerweise in der Nachbarschaft. Skypen kann ich mit einem Freund in Australien, doch das Ei, das ich gerade jetzt zum Kuchen backen benötige, leihe ich mir aus der Nachbarschaft. Das sind reale Begegnungen, die weiterhelfen.

Kontakt halten mit digitalen Medien kann sich nicht jeder leisten. (Foto: Scott Griessel, AdobeStock)