Perspektiefe 53, März 2021

Mehr Nachhaltigkeit bei der Staatsverschuldung!

HINTERGRUND: Nur etwa zehn Jahre ist es her, dass den Bürgerinnen  und Bürgern der Eurozone schmerzlich vor Augen geführt wurde, wie schnell Staaten angesichts einer Krise aus einer Situation hoher Verschuldung in die Überschuldung rutschen können. Griechenland wurde zahlungsunfähig und machte einen Schuldenschnitt. Aber auch andere Länder wie z. B. Portugal, Irland, Italien oder Spanien kamen nur durch immense finanzielle Hilfen verschiede­ner europäischer Institutionen mit einem dunkelblauen Auge davon.

von: Dr. Jennifer Achten-Gozdowski, Referat Wirtschaft & Finanzpolitik
„Der Bund plant, die Corona-Schulden über die nächsten 20 Jahre zurückzuzahlen, das Land Hessen über die nächsten 30, das Land Nordrhein-Westfalen sogar über die nächs­ten 50 Jahre.“ Dr. Jennifer Achten-Gozdowski Im Zuge der weltweiten Corona-Pandemie grei­fen Staaten allerorts nun einmal mehr zu massiver Verschuldung, um die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen abzumildern. Doch die Verschuldung von heute ist die Be­las­tung von morgen, und so scheint ein kritischer Blick auch seitens der Kirchen dringend geboten, wenn die großen Themen Generationen­gerech­tigkeit und Nachhaltigkeit nicht nur leere Wort­hülsen bleiben sollen.

Begriff und Kontext von Staatsverschuldung

Der Begriff der Staatsverschuldung wird in den Wirtschaftswissenschaften unterschiedlich verwendet. Zum einen beschreibt er den Schulden­stand eines Staates, also die Summe der verbrieften Verbindlichkeiten (z. B. Bundesanleihen). Zum anderen steht Staatsverschuldung für die Netto­neuverschuldung. Die Nettoneuverschuldung – oder anders: das Budgetdefizit – entspricht der jährlichen Zunahme des Schuldenstandes. Für aussagekräftige Analysen und zur Vergleichbarkeit mit anderen Ländern werden sowohl der Schul­denstand als auch das Budgetdefizit stets ins Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt des betrachteten Landes gesetzt; man spricht dann von Schuldenstand- und von Defizitquote. Dieses Kon­zept liegt auch den sogenannten „Maastricht“-Kriterien zugrunde, die im europäischen Sta­bilitäts- und Wachstumspakt verankert sind: Die Schuldenstandquoten der Mitgliedstaaten dürfen 60 Prozent nicht übersteigen, und die jährliche Defizitquote soll unter 3 Prozent liegen. Beide Werte beziehen sich auf die Verschuldung des gesamten staatlichen Sektors, im Falle Deutschlands also auf die Verschuldung von Bund, Ländern, Gemeinden, Sondervermögen und Sozialversiche­rungen. Die Prozentangaben der „Maastricht“-Kriterien sind nicht ökonomisch bedingt, sondern politisch festgelegt. Ihre Höhe spiegelt dementsprechend den gemeinsamen europäischen Einigungsprozess wider, welcher Verschul­dungs­grad noch als akzeptabel und tragfähig anzu­sehen ist. Doch Papier ist geduldig: Die meisten Länder haben sich in den letzten 20 Jahren nicht an diese Verabredungen gehalten – auch Deutsch­land nicht.

Das Wesentliche bleibt dem Auge verborgen

Die eben beschriebene Verschuldung ist im volkswirtschaftlichen und öffentlichen Diskurs omnipräsent. Die einen finden sie zu hoch und pochen auf konsequente Konsolidierung. Anderen geht sie, vor allem angesichts des Niedrigzinsumfeldes, nicht weit genug. Die Dringlichkeit des Themas wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass der Hase noch an anderer Stelle im Pfeffer liegt. Die heiß diskutierten Schuldenstandquoten bilden nämlich nur die expliziten Schulden eines Staates ab, nicht aber die impliziten. Unter der impliziten Staatsschuld versteht man die zukünftigen Zahlungsverpflichtungen des Staates, die nicht in Form von Anleihen oder Ähnlichem verbrieft sind, sondern Versprechen und Zusagen umfassen. Die wichtigsten Formen impliziter Staatsschulden sind die Ansprüche aus der gesetzlichen Rentenver­sicherung sowie Pensionsansprüche. Die implizite Staatsschuld des deutschen Staates wird auf das Zwei- bis Dreifache seiner expliziten Schulden geschätzt.[1] Mit dem Renteneintritt der Babyboomer-Generation in den nächsten zehn Jahren werden sich große Teile der impliziten Schulden mate­rialisieren und von den jüngeren, geburten­schwächeren Jahrgängen zu schultern sein. Vor diesem Hintergrund erscheinen eine solide Fis­kalpolitik und eine Rückführung der Staats­schulden erst recht als Gebot der Stunde, um den nachfolgen­den Generationen durch hohen Schul­den­dienst nicht jeglichen eigenen finanziellen Spiel­raum zu nehmen. Die Corona-Pandemie verschärft die Situation zusätzlich. Erstens werden auf nationaler Ebene in allen europäischen Ländern immense neue Schul­den aufgenommen. Die Lasten der Rückzahlung sind bislang komplett auf die heute jüngeren Menschen ausgelegt: Der Bund plant beispielsweise, die Corona-Schulden über die nächsten 20 Jahre zurückzuzahlen, das Land Hessen über die nächsten 30, das Land Nordrhein-Westfalen sogar über die nächsten 50 Jahre.[2] Bildlich gesprochen hat ein heutiger Grundschüler aus Köln seine eigenen Kinder bereits wieder aus dem Haus, wenn er mit dem Abzahlen der Corona-Schulden fertig ist. Zweitens wurden zum ersten Mal in der Geschichte auf EU-Ebene gemeinschaftliche Schulden aufgenommen. Auch deren Rückzahlung soll erst zwischen 2028 und 2058 erfolgen. Zudem ist hierbei zu monieren, dass die Schulden und Defizite der europäischen Ebene bislang nicht in den nationalen Kennzahlen ausgewiesen werden müssen, obwohl sie natürlich zusätzlich zu den nationalen Schulden aus dem Steueraufkommen der einzelnen Staaten bedient werden.[3] Schuldenstand- und Defizitquoten sind künftig gedanklich also nicht nur um die gesamte implizite Verschuldung eines jeden Landes zu ergänzen, sondern auch noch um die europäische. Transparenz – Grundlage für Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit – sieht anders aus!

Die Kirchen sollten der Politik nicht in Sackgassen folgen

Warum gehen viele Länder, darunter auch Deutsch­land, den oben skizzierten Weg der ho­hen Schuldenbelastung und schieben die Kon­sequenzen der Zins- und Tilgungszahlungen in die Zukunft, wo sie die Haushalte und damit die finanziellen Handlungsspielräume der Jungen stark einengen? Hier offenbart sich ein bekanntes Dilemma: Das Dringen auf langfristige Verände­rung und Nachhaltigkeit unterliegt fast immer den tagesaktuellen Wünschen und Gegebenheiten, denn Politik ist auf Wählerstimmenmaximierung aus. So wird Politik in erster Linie für den Wähler von heute und nicht den von morgen gemacht, und die Finanzierung des aktuell benötigten und politisch gewollten Staatsbudgets folglich lieber in die Zukunft verschoben. Heute unbequeme politische Maßnahmen wie weitere Steuererhöhungen oder gar Ausgabenkürzungen schmecken der wahlberechtigten Bevölkerung nämlich meist nicht. Die nachfolgenden Generationen können allem nur tatenlos zusehen, da sie wenig oder noch gar kein Mitspracherecht haben.
Das Selbstverständnis der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland weicht allerdings in entscheidenden Punkten vom politischen ab: Ihr Verantwortungshorizont ist die gesamte Menschheitsfamilie, und das bezieht alle zukünftigen Generationen explizit mit ein.[4] Das wiederum verlangt ein gewisses Maß an Widerspruchsgeist, nicht jede Staatsbudgetausweitung – wie so oft geschehen! – zu unterstützen, wenn nicht zugleich die Finanzierung im Hier und Jetzt gesichert ist. Im Nachgang der Finanzkrise hatten die Kirchen von Regierungen und Parlamenten sehr deutlich mehr Verantwortung im Hinblick auf eine nachhaltige Haushaltspolitik gefordert. Ernst gemeinte Generationengerechtigkeit gebiete es, den kommenden Generationen „einen handlungsfähigen, nicht durch Schuldendienst paralysierten Staat“[5] zu hinterlassen. Es gilt, diesen Appell vehement zu wiederholen und sich aktiv für nachhaltige Staats­finanzen stark zu machen!
Quellen:

[1] Vgl. Deutscher Bundestag (2019), S. 8.
[2] Vgl. Sachverständigenrat (2020), S. 137 und S. 146 f.
[3] Vgl. Deutsche Bundesbank (2020), S. 40–42.
[4] Vgl. EKD und DBK (2014), S. 12.
[5] DBK (2009), S. 35.

Quellenangaben:
Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.) (2009), Auf dem Weg aus der Krise. Beobachtungen und Orientierungen. Bonn
Deutsche Bundesbank (2020), Monatsbericht. Dezember 2020. Frankfurt/Main
Deutscher Bundestag (2019), Implizite Verschuldung und fiskalische Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte. Aktenzeichen WD 4-3000-021/19.
Evangelische Kirche in Deutschland und Deutsche Bischofskonferenz (Hrsg.) (2014), Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft. Hannover, Bonn
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.) (2020), Corona-Krise gemeinsam bewältigen, Resilienz und Wachstum stärken. Jahresgutachten 20/21. Wiesbaden