Perspektiefe 53, März 2021

Sünde – Schuld – Schulden – Verschuldung

THEOLOGISCHE GEDANKEN: Theologische Gedanken zur ökonomischen Schuldenproblematik.

von: Christian Schwindt, Pfarrer und Oberkirchenrat, Leiter des Zentrums Gesellschaftliche Verantwortung
„Zum Problem wird es, wenn ausschließlich das ,Geld die Welt regiert’, indem alle Le­bensverhältnisse in einer Geld-Tausch-Äquiva­lenz verstanden werden.“ Christian Schwindt

Gesellschaft ohne Schulden?

Es gibt gute Gründe, Schulden zu machen: die Förderung oder Erhaltung eines Unter­nehmens etwa, intertemporale Lastenver­teilung bei Investitionen im staatlichen Kontext oder Notlagen. Bei Schulden gibt bzw. überlässt einer dem anderen etwas mit begrenzter Zeit, meist verbunden mit einem Zins, damit dieser in der Zukunft etwas schaffen, ermöglichen, besitzen oder erhalten kann. Aus- bzw. Rückzahlung sind dabei für Gläubiger oder Schuldner gleichermaßen verbindlich. Das Ganze basiert auf gegenseitigem Vertrauen und auf der Hoffnung, dass die Verabredung eine positive Investition in die Zu­kunft darstellt. Gläubiger und Schuldner sind damit Optimisten!

Überschuldung – ein Problem

Schuldenmachen an sich ist nicht das Problem. Schwierig wird es, wenn Verschuldung zur Über­schuldung wird. Das birgt bekanntlich nicht nur ökonomische, sondern auch private oder gesellschaftliche Probleme. Kühle Zahlenspiele der Öko­nomie können kaum darüber hinwegtäuschen, dass Schulden im Kern „ein moralisches Prinzip und eine moralische Waffe“ (Frank Schirr­macher) darstellen, die bei falscher Ausrichtung und An­wendung verheerende Auswirkungen ha­ben können. Die Schuldengeschichte der Mensch­heit zeigt, dass Schulden zu einem macht- und gewaltverbundenen Phänomen werden können. Gläu­biger und Schuldner, eigentlich eine ökonomisch produktive Relation (s. o.), stehen sich dann mitunter in einem für alle gefährlichen Beziehungs­geflecht gegenüber. Ein ökonomischer „Teufels­kreis“ ist die Folge. Aus den Fugen geratene Schuld­verhält­nisse waren in der Geschichte der Menschheit Grund für Sklaverei, Kriege und wirtschaftliche Katastrophen. Die Finanz- und Wirt­schaftskrise 2007 bis 2009 ist hier ein aktuelles Bei­spiel. Der „Geist des Kapitals“ droht zum Un-Geist zu werden. Schulden sind daher eine Kategorie, die nicht allein der Deutungshoheit der Rationalität der Ökonomie überlassen werden darf.

Schuld und Schulden

Aber warum gerät eigentlich ein an sich produktives Wirtschaftsverhältnis aus den Fugen, warum verzichtete der Mensch offenbar gerne mal auf ein sinnvolles Wirtschaften? Solche Fragen über­schrei­ten ökonomische Reflexionen und können unversehens in die Gedankenwelt der Theologie führen. Es überrascht nicht, dass religiöse und ökonomische Sprache verwoben sind: Kredit kommt bekanntlich von credo und in der fünften Bitte des Vater-Unser heißt es im Matthäus­-Evan­gelium (Mt. 6,12): dimitte nobis debita nostra (Erlass uns unsere Schulden). Die Ahnung, dass innere bzw. moralische Schuld (culpa) und äußere bzw. ökonomische Schulden (debita) durchaus etwas miteinander zu tun haben und dass dies auch mit dem Glauben an Gott in Verbindung steht, ist durchaus berechtigt. Die Frage danach impliziert eine Vorstellung von Verbindlichkeit und auch sozialer Bindung, die als übergreifender Ho­ri­zont der Frage aufgefasst werden kann, auf was wir letztlich „hören“ oder weniger subjektivistisch formuliert: wem wir zugehören. Dann sollte man aber über Geld[1] und theologische Anthropo­logie sprechen, denn es könnte sein, dass sowohl die „Macht des Geldes“ als auch die ausschließliche Liebe zu sich (amor sui) – theologisch gesagt die Sünde – es sind, die soziale und damit auch wirtschaftliche Beziehungen korrumpieren können.

Gott, Geld und der Mensch

Das Urteil über Geld ist in der Bibel denkbar ambivalent. Geld wird als Zahlungsmittel anerkannt und als Lohn der Frommen (und Tüchtigen) angese­hen. Geld in den Dienst notleidender Mitmen­schen zu stellen, wird auch empfohlen (z. B. Lk 16,9). Doch dem Geld wird auch mit tiefer Skepsis, ja Ablehnung begegnet. Das berühmte Wort Jesu „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“ (Mt 6,24; vgl. 1. Tim 6, 17–19) ist Ausdruck einer solchen Einstellung zum Geld. Die kritische Hal­tung wird nun religiös begründet: Geld vermag eine eigendynamische Macht gewinnen, die das Wohlergehen der menschlichen Seele gefährden kann. Auch der Reformator Martin Luther klingt ja geradezu modern, wenn er im Kontext des Ab­lasshandels die Okkupation der Herzen und Hirne durch das Geld-Mysterium kritisch offenlegt. Wie aber kann das Geld diese Macht gewinnen? Auch Geld, das für sich genommen keinen Wert darstellt, beruht – wie auch das Schuldenmachen – auf Vertrauen und Hoffnung. Wenn wir mit Geld bezahlen, dann ist das nur möglich, weil mein Gegenüber darauf vertraut, dass dieses Geld eingelöst wird und auch in Zukunft eingelöst werden kann. Eine Übersetzung des aramäischen Wortes „Mammon“ bedeutet ja auch: „das worauf man vertraut“. Zum Problem wird es, wenn ausschließlich das „Geld die Welt regiert“, indem alle Le­bensverhältnisse in einer Geld-Tausch-Äquiva­lenz verstanden werden. Dann ist es der „Gott des Geldes“, auf den man im Leben vertraut und der dann doch irgendwie zum „Gott des (sozialen) Gemetzels“ werden kann. Und der Mensch …? Die Bibel ist auch hier durchaus ambivalent: Trotz ebenbildlicher Nähe zu Gott und göttlicher Befähigung zur freien Welt­gestaltung ist der Mensch „allzumal Sünder“ (Röm 3,23), fixiert auf sich selbst und den eigenen Vorteil. Sünde meint in den Glaubenssprachen der christlichen Überlieferung primäre Selbst­bezogenheit oder Selbstzentriertheit. Vergessen wird die eigene (Mit-)Geschöpflichkeit, Begrenzt­heit und Kooperationsbedürftigkeit. Und indem diese „Vergessenheit“ keinerlei innere reflexive Distanz zu sich gewinnen vermag, hat sie das Potenzial, soziale Beziehungen und damit auch wirtschaftliche Verhältnisse zu korrumpieren.

Ent-schuld(ig)ung …?

Die christliche Perspektive ist bestimmt durch die fundamentale Einsicht, dass niemand von uns sich selbst verdankt, sondern wir alle unser je eigenes Leben als Gabe empfangen – aus „Gottes Hand“. Befreites Leben ist deshalb ein Leben im Bewusstsein der eigenen Geschöpflichkeit, ein Leben in heilsamer, dankbarer Ehrfurcht vor Gott dem Schöpfer. In der „Ökonomie“ des christlichen Glaubens ist es strukturell gesehen wie beim ökonomischen Schuldenmachen: Es gibt einen „Geber“ (Gott) und einen „Schuldner“ (Mensch). Doch wie wird hier diese „Verbindlichkeit“ produktiv, das heißt lebensförderlich, gelöst? Gott verzeiht und entschuldigt pro bono durch sich selbst in Christus, ist die christliche Antwort. Schon nach Maßgabe der Etymologie hängen „verzeihen“ und „verzichten“ aufs Engste zusammen: „Ich zeihe dich keiner Schuldigkeit mehr“, „Ich bezichtige dich nicht“. Also verzeihe ich dir, ich verzichte auf Rückzahlung, Vorwurf und Anklageerhebung. Jede Verzeihung ist ursprünglich ein Verzicht: Als Unterlassung der Vergeltung und jenes Schuld­aus­gleichs, den gnadenlose Verbindlichkeit eben anstrebt.
Es ist erinnerungswert, wie biblische Autoren über Geld und den Menschen nachdenken. Sie versuchen, das Geld zu entzaubern, indem sie Geld nicht als Selbstzweck auffassen, sondern als hilfreiches Produkt sozialen Handelns, um die Welt lebensdienlich zu gestalten. Gleichzeitig ru­fen sie die dem Menschen zugedachte Stellung in Gottes Schöpfung in Erinnerung, die ihn in Verant­wor­tung für Mitmenschen und Umwelt stellt.

Glaube und Ökonomie

Religion (und Moral) können ökonomische Ent­scheidungen nicht ersetzen, doch ein solches Nachdenken kann dabei helfen, möglichst menschen- und umweltdienliche Prozesse des Wirt­schaftens zu befördern, indem es dabei hilft, Geister zu scheiden und grundlegende Relationen zu benennen. Denn bleibt im menschlichen Gehör, dass der Mensch von der unverfügbaren Zu­wendung und Gnade Gottes lebt, dann besteht auch eine gute Distanz, um notwendige ökonomische Prozesse verantwortlich zu gestalten. Geld und Kredit wird damit nicht verteufelt, aber in eine Ökonomie des Maßhaltens, der Sozial­pflich­tigkeit und der Kooperation eingeordnet, die gleichermaßen für Gläubiger und Schuldner gewinnbringend sein dürfte.
Übrigens: Wer die innere Verflechtung von Sünde – Schuld – Schulden bzw. Verschuldung ins Bild gesetzt sehen möchte, sollte sich die Filme „Pieta“ von Kim-Ki-duk, „The Big Short“ von Adam McKay oder „Oeconomia“ von Carmen Losmann anschauen.



[1] Erinnert sei hier, dass das engl. Wort für Schuld „guilty“ wortgeschichtlich mit dem Wort „Geld“ verbunden ist.