Perspektiefe 54, August 2021

Emotionen im gesellschaftlichen Zusammenleben

NACHGEFRAGT: Wir fragten fünf Menschen, welchen Raum sie Emotionen in ihrem beruflichen Leben einräumen, in welchem Verhältnis Vernunft und Gefühl zueinander stehen sollten und was sie von Gefühlen in gesellschaftlichen Debatten halten.


Mareike Oponczewski, Vorsitzende der Evangelischen Jugend in Hessen und Nassau e. V.

Emotionen sind für mich, meinen Alltag und meine Entscheidungen, die ich dabei treffen muss, besonders wichtig. Gerade wenn es darum geht, seinen Weg, die eigene Zukunft, für die kommenden Jahre zu definieren, habe ich gemerkt, wie gut es tun kann, hierbei den Emotionen Raum zu geben. Emotionen sind ein Ausdruck von Per­sönlichkeit. Ich bin der Meinung, dass sowohl im Privaten als auch im Be­ruf­lichen Emotionen wichtig sind, um die gegenüberstehende Person ein- und abschätzen zu können. Dabei geht es nicht nur darum, ob der*die Gegenüber­ste­hende einen mag. Es geht auch darum, herauszufinden, ob diese Person Hilfe benötigt, weil er*sie überfordert ist, sich besonders für ein Thema interessiert und deswegen seinen*ihren ganzen Ehrgeiz aufbringt oder eine Pause braucht, weil die Situation, in der sich derje­nige*die­jenige befindet, überfordernd wirkt. Emo­tionen brauchen nicht nur Raum, sondern verleihen ihn auch in gewisser Weise – auch geben sie anderen die Möglichkeit, diesen Raum zu erkennen und daran teilhaben zu können.

Das Verhältnis zwischen Vernunft und Gefühl besitzt eine unglaubliche Ent­scheidungskraft. Je nachdem, wohin es einen mehr zieht, kann die dadurch getragene Entscheidung ganz anders ausfallen. Für meine berufliche Weiterbildung habe ich mich persönlich zwischen Vernunft und meinem Bauchgefühl entscheiden müssen und dabei viele Nächte gegrübelt, was nun der richtige Weg ist. Ich habe während meines Studiums meine Interessen so weit gefächert, dass ich für vieles Herzenswünsche entwickelt habe. Dabei war und ist es aber auch im­mer vernünftig gewesen, den Zukunfts­blick, und das, was man sich für einen selbst und die Familie wünscht, nicht zu vergessen. Ich habe mich in diesem Moment für meine Vernunft entschieden. Der Herzenswunsch ist aber nicht vergessen. Ich baue darauf, dass ich in der Zukunft die Möglichkeit bekomme, meine Herzenswünsche mit meinem Beruf zu verbinden.

Viele Bilder von emotionalen Personen sind in der heutigen Gesellschaft stig­ma­tisiert. So wird immer noch das Gefühl vermittelt, dass vor allem Emotionen die Verletzlichkeit widerspiegeln, einen schwach wirken lassen. Offen über Ge­fühle zu sprechen scheint immer noch ein Tabuthema zu sein. Dabei sind Ge­fühle eine unglaubliche Bereicherung. Sie erzeugen Kraft oder verstärken auch die Interessen der Menschen füreinander. Es sollte viel mehr Mut gemacht werden, Emotionen offen zu zeigen und dafür nicht verurteilt zu werden. Ich glaube, dass sich die Gesellschaft hier gerade in einem Wandel befindet und vor allem Jün­­gere gerade hierfür auf verschiedensten Wegen sensibilisiert werden können.



Tobias Lochen, CEO und Gründer des sigo E-Lastenrad Sharings, Darmstadt

Emotionen können Antrieb, aber auch Hindernis im unternehmeri­schen Leben sein. Ein Unter­neh­men zu gründen, basiert weniger auf ra­tiona­len Entscheidungen, sondern auf dem emotionalen Bedürfnis, sich z. B. selbst zu verwirklichen oder einen positi­ven Ein­fluss auf seine Umwelt auszuüben.

Je nachdem wie stark der eigene Antrieb ausgeprägt ist, ist man in der Lage, mit Widerständen umzugehen, denn als Gründer ist man ständig mit Heraus­forderungen konfrontiert; man geht zwei Schritte vor und einen zurück.

Das produziert Emotionen und mit diesen richtig umzugehen, ist eine wesentliche Aufgabe eines jeden Unternehmers. Es bringt nichts, sich aufzuregen oder jemanden persönlich zu kritisieren. Dieses Verhalten führt nicht dazu, dass Heraus­forderungen besser gelöst werden. Ich versuche, diese negativen Emotionen zu kanalisieren und in ein „Jetzt-erst-recht“ oder „Ich-lasse-mich-nicht-unterkriegen“ zu transformieren. So wird aus negativen Emotionen ein positiver Antrieb, der mir Kraft gibt.

Gefühle machen uns zu Menschen. Daher kann man sie nicht ignorieren. Ich erlebe diesen Widerspruch zwischen Vernunft und Gefühl oft in Zusam­men­hang mit Personalentscheidungen. Ich kann z. B. mit niemandem zusammenarbeiten, mit dem ich nicht gern zusammen bin. Insbesondere beim Recruiting von Führungskräften ist es mir sehr wichtig, dass ich mich mit dem Kandidaten gut verstehe. Die Chemie muss stimmen. Auch, wenn das Team mit dem Kandi­daten nicht zurechtkommt, wird es nicht funktionieren. Selbst wenn der/die Kan­didatin eine fachlich vernünftige Ent­scheidung wäre.

Meiner Meinung nach lassen wir den Emo­tio­nen zu wenig Raum in unserer Gesell­schaft. Emotionen sind natürlich und es erfordert viel Selbstbeherrschung, sich davon nicht beeinflussen zu lassen und immer professionell zu agieren. Ins­be­sondere als Gründer, da man sich nicht in einem etablierten Unternehmen befindet und vielleicht noch über wenig Ma­nagementerfahrung verfügt. Man wird ins eiskalte Wasser geschmissen und hat oft nicht die Zeit, das Erlebte zu reflektieren, da man mit einer extrem hohen Ge­schwindigkeit jeden Tag eine Vielzahl an Entscheidungen treffen muss. Ich ver­stehe deshalb bis heute nicht, warum wir nicht schon unseren Kindern beibringen, mit Meditation oder anderen Techniken mit Gefühlen umzugehen. Meiner Mei­nung nach wird viel zu viel Wert auf das Fachliche gelegt und zu wenig auf The­men wie Empathie.

Dr. Bernd Blisch, Bürgermeister der Stadt Flörsheim am Main

Wenn man nach „wichtigen“ Poli­tikern fragt, so sind das in der Regel Personen, denen eine ge­hörige Portion Leidenschaft für ihr Amt zugeschrieben wird. Eine Debatte – ob im Ortsbeirat eines Stadtteils oder im Deut­schen Bundestag – gilt dann als gut, wenn die Emotionen hoch kochten. Gleichzeitig schätzt die überwiegende Zahl der Deut­schen unsere Bundeskanz­lerin gerade ob ihres unaufgeregten, un­ideologischen Politik- und Führungsstils.

Welchen Raum soll man also den Emo­tionen im „öffentlichen Leben“ geben? Für mich kann ich sagen, dass Emotion und Leidenschaft in der Politik dazugehören müssen. Wenn ich als Bürger­meister nicht für meine Stadt „brenne“, werden die Bürgerinnen und Bürger das schnell merken und sich mit Enttäu­schung abwenden. Gleichwohl muss bei den einzelnen Entscheidungen, die zu fällen sind, die Emotion draußen bleiben. Wir handeln nach Gesetzen, Regeln, Satzungen. Hier darf Emotion keine Rolle spielen. Es kann nicht sein, dass jemand besser behandelt wird, weil man sich schon lange kennt, weil jemand weniger „Widerworte“ gibt, weil er der gleichen Partei angehört.

Die Bürgerinnen und Bürger von Flörs­heim sollten für ihr jeweiliges Anliegen die volle Empathie der Verwaltungsspitze erwarten dürfen. Wenn jemand ein Thema vorträgt, hat er oder sie das Recht, dass ich mich als Bürgermeister voll mit seiner oder ihrer Sache identifiziere und „emo­tional einsteige“. Er oder sie muss aber auch akzeptieren, dass die Entscheidung auf dem Boden der Gesetze fällt und nicht davon abhängt, wie gut mir jemand sein Problem erklären konnte. Die ältere, gehbehinderte Dame, die gerne vor ihrem Haus parken würde, kann ich verstehen, auch wenn vor ihrem Haus ein Halte­verbot ist. Denn nur mit Mühe und Auf­wand kann sie noch in ihren Hof fah­ren. Wenn aber deshalb der Schulbus nicht mehr um die Kurve kommt, wird das Verständnis für die ältere Dame kleiner, denn ich muss auch an den Rest der Stadt denken – und die Kinder im Bus. Mir persönlich ist es wichtig, dass jeder, der zu mir kommt, den Anspruch haben kann, dass ich sein oder ihr Problem absolut ernst nehme.

Im Rahmen meines Studiums sagte mir mal einer meiner Lehrer: „Wenn Sie sagen „Effi Briest“ gefällt mir nicht, sagt das nichts über den Roman von Theodor Fontane aus, aber viel über Ihre Person.“ Das hat mich stark beeinflusst. Auch wenn es überheblich klingt: Es spielt keine Rolle, was ich persönlich bei diesem oder jenem Thema fühle.

In der gesellschaftlichen Debatte sollte die Öffentlichkeit erwarten können, dass mein Statement abgewogen und vernunftgeleitet ist. Was ich persönlich da­von halte, sollte nicht interessieren. Das hat aber nichts damit zu tun, dass ich mit Leidenschaft und voller Emotion in die Debatte gehe.

Pfarrerin Astrid Hannappel, Ev. Stephanusgemeinde, und Pfarrer Andreas Schmalz-Hannappel, Ev. Kirchengemeinde St. Johannes, Kelkheim

Auf der einen Seite bestimmen Emotionen unser Leben, sie soll­ten jedoch im öffentlichen Leben so weit wie möglich außen vor bleiben und für die anderen nicht sichtbar sein.

Eine primäre Aufgabe in unserem pfarramtlichen Dienst ist jedoch, gerade geschützte Räume für Emotionen anzu­bieten und zuzulassen. Dazu gehört die Be­gleitung von Trauerprozessen mit den intensiven Begegnungen in Trauerge­sprä­­­chen, die Aussegnung am Totenbett, der Trauergottesdienst und letztendlich die seelsorgerliche Trauerbegleitung nach der Beerdigung. Durch diese Begegnun­gen werden ausdrücklich Räume für Trauer, Klage, Angst und Wut ermöglicht. Zudem haben wir hinsichtlich der Emo­tionen die Seelsorge- und Vorbe­rei­tungs­gespräche für die Ka­­sualgottesdienste der Taufe und Trauung im Blick, in welchen vorrangig Ge­fühle wie Freude und Dankbarkeit im Vordergrund stehen. Auch in den Seel­sorgegesprächen unter vier Augen ha­ben Emotionen wie Scham und Schuld, Wut und Angst, Trauer und Zweifel einen hohen Stellenwert. Vor allem dürfen diese sein und ihren Aus­druck finden. Als Pfarrerin und Pfarrer übernehmen wir hier eine Hebammen­rolle. Wir unterstützen, dass auch negativ konnotierte Emo­tionen wie Wut, Neid, Schuld, Scham sein dürfen, und helfen dabei, die Ge­fühle im geschützten Raum auszusprechen und ihnen Ausdruck zu geben.
Auch der sonntägliche Gottesdienst kann insbesondere durch die Worte und die Musik Raum für Emotionen schaffen.

Vernunft und Gefühl stehen meistens in einem engen Zusammenhang und beeinflussen sich gegenseitig. Unsere Gedan­ken bestimmen unsere Emotionen und unsere Gefühle unsere Gedankengänge. Hierbei nehmen wir in unserem beruflichen Alltag hinsichtlich der Seelsorge, der Verkündigung und des Unterrichts eine Wechselwirkung wahr. Eine reflektierte Balance zwischen dem eigenen Ge­fühl und der Vernunft führt zu einer pro­fessionellen zugewandten Arbeits­weise.
Emotionen nehmen uns man­ches Mal ganz unmittelbar in Beschlag. Wenn wir wütend oder verletzt sind, möchten wir am liebs­ten sofort reagieren. Eine Impuls­kontrolle ist in diesen Momenten so sinnvoll wie notwendig. Da tut es gut, die Vernunft zu befragen, die Gedanken zu ordnen, sich Zeit zu geben und „eine Nacht darüber zu schlafen“.

Eine Selbstreflexion der eigenen Gefühle mit dem Nachforschen über die Gründe der Gefühlsintensität ist für die pfarramtliche Praxis sehr hilfreich. So können wir uns nicht vorstellen, dass unser Leben und Handeln ausschließlich vernunftgesteuert gestaltet werden kann.
Neben allen rationalen Entschei­dun­gen, die beispielsweise im Kirchenvor­stand getroffen werden, spielen Emotio­nen eine bedeutende Rolle, auch wenn diese meist nicht benannt werden. Viele der mitbestimmenden Emotionen sind uns vielleicht gar nicht bewusst.

Wir erleben im letzten Jahr eine zunehmende Emotionalisierung der Debatten, wenn es um den Umgang mit Corona und den sich stets anzupassenden Re­ge­lungen und Einschränkungen geht. Wissenschaftliche und rationale Argu­mente werden immer weniger gehört. Eine gute Möglichkeit wäre, die verschiedenen Emotionen, die Corona in uns auslöst, auszusprechen und diese ohne Bewertung stehen zu lassen. Denn wenn wir die Angst, die Wut, die Sorge der anderen hören, wahrnehmen und ansehen, dann können wir vielleicht adäquat darauf reagieren. Die Gefühle spielen in dieser sensiblen und großen Komplexi­tät eine bedeutende Rolle und können nicht ausgeklammert werden. Ein Dialog mit der Suche nach tragfähigen und nachhaltigen Lösungswegen ist ohne die Berücksichtigung der diversen Ge­fühle nicht möglich. Nur mit der Bewusst­werdung unserer Emotionen schaffen wir den notwendigen Raum für rationale Argumente.