Perspektiefe 54, August 2021

Religion und Gefühl – eine ewige Liaison. Einfluss der Religionsausübung auf gesellschaftliche Prozesse

NACHGEFRAGT: Religion und Gefühl, beides Themenbe­rei­che, die anthropologisch zum Menschsein hinzugehören und daraus nicht wegzudenken sind. Ein rein rational denkender und handelnder Mensch kann ebenso wenig überleben, wie ein Mensch ohne Ratio, der sein Leben ausschließlich auf seiner Gefühlslage aufbaute. Wer über Gefühle in der Religion, aber auch innerhalb der alle Lebensbereiche von Menschen umgreifenden Gesellschaft redet, kann sich nicht nur mit positiven Gefühlen auseinandersetzen, sondern muss sich auch mit der oftmals als negativ empfunde­nen Seite von Gefühlen auseinandersetzen.

von: Dr. Frank Weyen, Privatdozent für Praktische Theologie an der Universität Zürich sowie für Praktische Theologie und Diakoniewissenschaft an der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster und Pfarrer in Wanne-Eickel

 
„Ohne das Gefühl bliebe die Religion un­-vollständig und würde zugleich ihre ele­men­tare Zugangs­möglich­keit für Menschen einbüßen.“ Dr. Frank Weyen

Religion in der Postmoderne

Insbesondere in der individualisierten Post­mo­derne sind Gefühle zunächst auch in der Religion ein autonomes und vor allem individuelles Geschehen. Gefühle in religiösen Feiern sind individuell. Man kann sich an einer Predigt erfreuen, oder sich darüber ärgern. Man kann sich in einem Taufgottesdienst an dem Täufling, den Eltern, den Pat*innen, der Tauffamilie, den Liedern, den Ge­be­ten, kurz: an der Atmosphäre des Gottes­dienstes erfreuen, oder nicht. Es bleibt eine individuelle Reaktionsweise auf den Gesamt­zu­sam­menhang. Kurzum: Gefühle und gar Emotionen sind individuell mit der Ausübung von Religion verbunden.

Musik, Kunst und Gottesdienst

Die US-amerikanische Philosophin Susanne K. Langer sah vor allem in der Musik und Kunst, der Malerei und Literatur die Abstraktion von Gefühlen ausgedrückt. Dies umso mehr, je mehr man sich bewusst machen sollte, dass Gefühle zwar dargestellt, aber vom Gegenüber nicht immer auch verstanden bzw. gedeutet werden können. Meist auch ist die Deutung der eigenen Gefühle vom Subjekt selbst bereits nicht leistbar. Umso schwerer sei die Deutung durch das jeweilige Gegenüber möglich. Für Langer wiederum bilden religiöse Rituale Gefühle ab, ja machen diese deutend sichtbar. Sie nennt diesen Vorgang „Artikulation von Gefühlen“<sup>[1]</sup>. Diese stellen, ähnlich wie bei Schleiermacher, ein Empfinden gegenüber den „letzten Dingen“ dar, als Gemütsbewegungen mit komplexem emotionalem Charakter. Wahrneh­men, Urteilen und Handeln, immer seien Gefühl und Vernunft zugleich aktiv. Denn Urteile ohne Mit­wirkung von Gefühlen könnten (über-)lebenswichtige Aspekte menschlichen Lebens ausblenden. „Gottesdienste mit ihren Liturgien, Liedern, Ge­beten und biblischen Texten konnten schon immer zur Schule für Gefühle der Frömmigkeit werden.“ <sup>[2]</sup> Diese stellen also ein Art Liturgiemalerei dar.

Der gesellschaftliche Beitrag

Welchen Einfluss kann nun der kathartischen Funktion des Gottesdienstes und der Religions­ausübung auf gesellschaftliche Prozesse in der Postmoderne beigemessen werden? Wenn die Religionsausübung auf dem Umwege der psycho-physischen Reinigung und emotionalen Pflege des Gemütes für den Lebensalltag unter der Woche zurüsten soll <sup>[3]</sup>, dann bieten sich mithilfe der Religionsausübung Ansätze für die Auswirkung von Gefühl und Religion auf gesellschaftliche Prozesse. Insbesondere mit Thomas Luckmann steht dabei in der ausgehenden Postmoderne am Übergang in die Digitale Moderne das schon Ende des 19. Jahrhunderts von Émile Durkheim beschriebene autonome Individuum im Zentrum des gesellschaftlichen Interesses. Transzendenz­schrum­pfung hin oder her. Entscheidend ist bei Luckmann, dass das Individuum Teil des Ganzen der Gesellschaft ist und diese mitprägen kann. Allerdings folgert die Individualisierung zunehmend auch den Rückzug von Religion aus dem öffentlichen Diskurs. Das bedeutet für West- und Nordeuropa, dass mit dem Rückzug der Reli­gio­sität der Einzelnen, zugleich auch der Rückzug der Religion innerhalb der Gesellschaft verbunden ist und somit die ‚Liaison von Religion und Gefühl‘ nur noch bedingt einen Anteil am friedlichen Zu­sammenleben der Gesellschaft hat, auf die wiederum, beispielsweise Protestant*innen im Alltag Ein­fluss nehmen könnten. Daher schwindet mit der Transzendenz zugleich innergesellschaftlich auch der mögliche Einfluss der Religiosität auf das gesellschaftliche Miteinander jenseits einer, kirchentheoretisch gesprochen, religions- oder kirchenpoli­tischen Ebene. Die Zurückdrängung von Religion in das Private, analog dem französischen Vorbild, zeitigt zugleich die dort seit 1905 zu be­ob­ach­ten­de abnehmende gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Religion. Daher kann als die Voraussetzung für eine zunehmende Bedeutung der christlichen Religion in der Gesellschaft eine Trendumkehr des Rückzuges der christlichen Re­ligion ins Private beschrieben werden. Dies ist aber unter einem neoliberalistischen Aspekt in der Postmoderne nicht zu erwarten. Daher bewegt sich die gesellschaftliche Relevanz insbesondere des Pro­tes­tantismus weniger auf dem Boden der Frage­stellung des Verhältnisses zwischen Religion und Gefühl und damit um die Auswirkung einer individualisierten Religionsausübung, in der das Private in die Gesellschaft über den Einzelnen hin­ein­wirken könne. Sondern erst die konsequente gesellschaftspolitische Positionierung des Pro­tes­tantismus vor dem Hintergrund des biblisch-theologischen, dogmatischen, ethischen und praktisch-theologischen Befundes versetzt auch die protestantische Repräsentanz des Christen­tums in die Lage, gesamtgesellschaftliche Pro­zesse entscheidend mitzubeeinflussen und den öffent­lichen Diskurs im Rahmen einer öffentlichen Theo­logie zu führen. Ein zunehmender neoliberalistisch geprägter Rückzug der Religion ins Private eines individualisierten Protestantismus ist genau das Gegenteil von Öffentlicher Theologie und Öffent­licher Kirche mit gesellschaftlicher Relevanz, die auch gehört werden will. Eine Religion innerhalb einer offenen Gesellschaft zeitigt diejenigen Rück­zugssymptome, die sich in West- und Nord­europa beobachten lassen. Jedoch zeigt das Wachstum der Religionen in Amerika, Afrika und Asien, dass es um die Religion in der Welt nicht schlecht bestellt ist. Europa stellt dabei nur einen kleinen Ausschnitt dar. <sup>[4]</sup>   

Religion und Gefühl – eine ewige Liaison

Religion ist nach dem hier erarbeiteten Befund ohne Gefühl nicht denkbar. Vor allem im zentralen Kultus des Gottesdienstes gehört das Gefühl hinzu. Der psychologische Befund ist darüber hinaus auf das psycho-physische Zusammenspiel von Gefühl und Verstand bezogen, in dem das Gefühl als Gesicht der Emotion gelten kann. Wenn der Gottesdienst und der religiöse Kultus den ganzen Menschen als von Gott anzusprechendes Geschöpf meint, so gehören nicht nur der Ver­stand als Ratio, sondern auch das Gefühl zu den konstitutiven Inhalten zur Religion und Religiosität hinzu. Ohne das Gefühl bliebe die Religion unvollständig und würde zugleich ihre elementare Zugangsmöglichkeit für Menschen einbüßen. Sei es über Gebete, die Liturgie, die Musik im Got­tesdienst, über Feste und Feiern, die zu religiösem Leben und Erleben hinzugehören und das kirchlich-religiöse Leben erst abrunden, ja für den einzelnen Menschen ganzheitlich erfahrbar machen. Dies gehört zur ‚ewigen Liaison‘ von Re­ligion und Gefühl. 


Quellen

<sup>[1]</sup> Langer, Susanne (1987): Philosophie auf neuem Wege. D. Symbol im Denken, im Ritus u. in d. Kunst. Ungekürzte Ausg., 4. – 5. Tsd. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl. ([Fischer-Taschenbücher], 7344 : Fischer-Wissenschaft), 288; vgl. Kuhlmann, Helga (2006): Gott fühlen – Gott denken. In: Evangelische Theologie 66 (2), S. 124–141; vgl. Reyßer-Aichele, Margita (2015): Gottesvorstellungen und Gefühle. In: Wege zum Menschen 67 (3), S. 239–252.

<sup>[2]</sup> Kuhlmann, a.a.O., 138.

<sup>[3]</sup> Vgl. Meyer-Blanck, Michael (2011): Gottesdienstlehre. Tübingen: Mohr Siebeck (Neue Theologische Grundrisse).

<sup>[4]</sup> Vgl. Luckmann, Thomas; Luckmann, Thomas (1991): Die unsichtbare Religion. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 65–76; Ders. (1972): Religion in der modernen Gesellschaft. In: Jacobus Wössner und L. von Deschwanden (Hg.): Religion im Umbruch. Soziologische Beiträge zur Situation von Religion und Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft. Stuttgart: Enke, 5–15; Durkheim, Émile (Hg.) (1975): Fonctions sociales et institutions. Paris: Ed. de Minuit (Le sens commun, 3); Weyen, Frank (2018): Kirche im Zeitalter des Neoliberalismus. Zu den Wirkungen des neoliberalistischen Gesellschaftskonstrukts auf die evangelische Kirche. In: Verband Evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e. V. (Hg.): Deutsches Pfarrerblatt, Zeitschrift evangelischer Pfarrerinnen und Pfarrer 118. (5), 260–265; Weyen, Frank: Mehr Theologie wagen. Verkündigung als angewandte Programmatik, Ein Plädoyer für die öffentliche Rede der Predigt. In: Eberhard Hauschildt (Hg.): Pastoraltheologie, Jg. 103/10/2014. Göttingen, 456–467.