Perspektiefe 35, November 2014

Warum sich Kirche im Gemeinwesen engagiert

GRÜNDE UND HINTERGRÜNDE: "Kirche im Gemeinwesen" bildet seit einigen Jahren ein zunehmend wichtiger werdendes Handlungsfeld der Kirche. Gemeinsam mit säkularen Akteuren engagieren sich Kirche und Diakonie im oder für den Stadtteil oder das Dorf, nehmen die regionalen Lebensbedingungen in den Blick und versuchen sie zu verbessern. Dabei arbeiten Kirchengemeinden, Kirchenkreise, diakonische Dienste und Einrichtungen mit Kommunen und anderen säkularen Institutionen zusammen, um den Sozialraum in einer Weise zu gestalten, die "die soziale Infrastruktur einer Stadt stärkt und das nachbarschaftliche Miteinander in den Wohnquartieren ausbildet"(1). von Prof. Dr. Uta Pohl-Patalong, Christian-Albrechts-Universität, Kiel „Wenn die Kirche die Bot­schaft von der Liebe Gottes zu den Men­schen und von seinem Willen für sie, ein gutes Leben zu führen, glaubwürdig und überzeugend verkündigen will, dann muss in ihrem Handeln exemplarisch etwas davon aufscheinen, wie Menschen nach Gottes Willen leben sollen.“  Uta Pohl-Patalong Ist dies eine legitime Aufgabe der Kirche? Und ist diese so wichtig, dass dafür auch in finanziell knappen Zeiten Ressourcen aufgewendet werden sollten? Diese Fragen werden innerhalb und außerhalb der Kirche gestellt und müssen plau­sibel beantwortet werden. Dafür erscheint es sinnvoll, unterschiedliche Ebenen der Begründung zu unterscheiden und in ihrer Diffe­renzierung die Notwendigkeit von kirchlichem Handeln im Ge­mein­wesen deutlich zu machen.

1. Dem Auftrag der Kirche entsprechen (theologische Begründung)

Theologisch ist zunächst gemeinwesenorientierte Arbeit als Ausgestaltung des originären Auftrags der Kirche zu begründen. Dieser Auftrag kann beschrieben werden als "Kommunikation des Evan­geliums", die sich auf die Welt richtet. Die Welt als Ort, an dem Gott sein Reich Wirklichkeit werden lassen will, ist die Bezugsgröße kirchlichen Han­deln.(2) Denn die Kirche ist ja nicht Selbstzweck ihres Daseins, sondern sie ist theologisch an die Welt gewiesen. "Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist", hat prononciert Dietrich Bon­hoeffer formuliert. Dies erschöpft sich nicht in der individuellen Zuwendung zu bedürftigen Men­schen, sondern dem Christentum ist in seiner jüdischen Tradition von seinen Anfängen an eine gesellschaftsgestaltende und damit auch gesellschaftskritische Perspektive eigen. Diese ist besonders deutlich in der Sozialkritik der alttestamentlichen Propheten, die das Engagement für eine gerechte Lebenswelt für alle Menschen, insbesondere für die Schwachen, fordern, ebenso wird diese Per­spektive im Handeln Jesu aufgenommen. Diese Überzeugung wird im Engagement für den Stadt­teil oder das Dorf konkret. Anders als gelegentlich kolportiert, gehört ein solches diakonisches Handeln zu den unverzichtbaren Aufgaben der Kirche und ist keineswegs in finanziell schwierigen Zeiten ein verzichtbares Beiwerk, wie es die Rede vom kirchlichen "Kern­geschäft" (mit dem dann Gottesdienst und Ver­kündigung gemeint ist) gelegentlich suggeriert. "Die Diakonie hat teil am Auftrag der Kirche, die Botschaft von der Liebe und Gerechtigkeit Gottes auszurichten und zum Glauben an Jesus Christus einzuladen."(3)

2. Glaubwürdig sein in der Gesellschaft (institutionelle Begründung)

Auf dem Boden dieser theologischen Erkenntnis ist es auf einer zweiten Argumentationsebene für die Glaubwürdigkeit der Kirche unverzichtbar, für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen einzutreten. Wenn die Kirche die Bot­schaft von der Liebe Gottes zu den Menschen und von seinem Willen für sie, ein gutes Leben zu führen, glaubwürdig und überzeugend verkündigen will, dann muss in ihrem Handeln exemplarisch etwas davon aufscheinen, wie Menschen nach Gottes Willen leben sollen (vgl. Mt 11,5). Dies gilt nicht nur, aber besonders gegenüber Menschen ohne selbstverständliche christliche Sozialisation. "Wenn man Christen versteht, dann aufgrund ihres authentischen Lebensstils, der Wort und Tat einschließt. Das persönliche Vorbild zählt. Wort ohne Tat wäre hier unglaubwürdig, Tat ohne Wort unkenntlich."?(4) Damit ist gemeinwesenorientierte Ar­­beit auch im Blick auf das - legitime - Eigen­interes­se der Kirche sinnvoll und wichtig. Ihr wird gelegentlich sogar eine entscheidende Rolle für die Zukunft der Kirche zugesprochen: "Christliche Gemeinden mussten in der Geschichte sich dann nicht um ihre Zukunft sorgen, wenn sie sich in kritischen Phasen auf die Seite der Menschen geschlagen haben, die im biblischen Mandat angesprochen wurden. [...] Gemeinden, die sich um das Schicksal von Menschen kümmern, die in ihrem Raum leben, bekommen ihre Zukunft geschenkt. Auch für sie gilt die Verheißung im Buch Jeremia: 'In ihrem Wohl liegt Euer Wohl'."?(5)

3. Kirchliches Handeln sinnvoll gestalten (strukturelle Begründung)

Noch einmal anders gelagert ist die strukturelle Argumentation für das gemeinwesenorientierte Handeln der Kirche. Die Kirche hat in ihrer Ge­schichte unterschiedliche Organisations- und Hand­­lungsformen entwickelt, die jeweils besondere Stärken und Chancen im Blick auf eine viel­schichtige Kommunikation des Evangeliums haben. Die dominante Form der Ortsgemeinde orientiert sich seit Ende des 19. Jahrhunderts an den Lebens­räumen von Menschen im Nahbereich und beruht zu großen Teilen auf persönlichen Kontakten vor allem zu den Hauptamtlichen, aber auch der Gemeindeglieder untereinander. Die mittlere Ebene des Kirchenkreises bzw. Dekanates hat größere räumliche Zusammenhänge und übergeordnete Aufgaben der Kirche im Blick und kann finanziell gezielt wichtige Aufgaben fördern. Die Diakonie schließlich hat eine umfassende fachliche Expertise für soziale Problemlagen entwickelt und beschäftigt Menschen, die für solche Aufgaben ausgebildet sind. Im Blick auf die Arbeit für die soziale Infrastruktur eines Dorfes oder eines Stadt­teils werden die Kompetenzen und Chancen aller kirchlichen Ebenen in ihrem Zusammenwirken benötigt und es wäre geradezu fatal, wenn diese Chance nicht genutzt würde. "Die Kirche kann durch ihre Rolle als Volkskirche zur Überwindung sozialer Segmentierungen beitragen und unterschiedliche Angebotsstrukturen im Gemeinwesen vernetzen. Sie kann Kultur- und Sozialarbeit verknüpfen. Sie kann in ihren Gemeinden an Tradi­tionen von Nachbarschaftshilfe, Vereinsarbeit und Zusammenarbeit der Generationen anknüpfen und einzelne in Krisensituationen begleiten. Sie kann verhindern, dass soziale Dienste nur deshalb unterbleiben, weil freiwillige Tätigkeiten und Hilfe­bedarf nicht zueinander finden. Gerade auf diesem Feld liegen die größten Chancen für Kirchen­­ge­meinden, die in einem überschaubaren Nah­be­reich verankert sind und eng an den Bedürfnissen der Menschen orientiert soziale Dienste organisieren können. Dabei ist es notwendig, die gemein­wesenorientierte Arbeit in der Parochie und die spezifische Fachkompetenz der diakonischen Trä­ger zu vernetzen."?(6) Gleichzeitig decken sich die Ziele kirchlichen Handelns häufig mit denen säkularer Träger und es erscheint in den wenigsten Fällen sinnvoll, kirchliche Alleingänge in diesem Arbeitsfeld zu unternehmen. Zu den inhaltlichen Überlegungen kommt also das pragmatische Argument hinzu, dass die für die kirchliche Gemeinwesenarbeit typische Zusammenarbeit verschiedener kirchlicher und anderer Akteure die Arbeit nachhaltig verbessert und Ressourcen sinnvoll eingesetzt werden.  Anmerkungen: (1) Handlungsoption Gemeinwesendiakonie. Diakonisches Werk der EKD, 2007, S. 5 (2) Vgl. Eberhard Hauschildt / Uta Pohl-Patalong: Kirche (Lehrbuch Praktische Theologie) (3) Reden von Gott in der Welt. Kirchenamt der EKD, Frankfurt a.M., 2. Aufl., 2001, S. 43 (4) Thomas Schlegel: Diakonie und Mission – und ihre notwendige Zusammenschau im ostdeutschen Kontext. epd-Dokumentation 39/2011, S. 27–30 (5) Klaus Dörner: Leben und sterben, wo ich hingehöre. Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem. Neumünster 2007, S. 11 (6) Soziale Dienste als Chance. Dienste am Menschen aufbauen. Menschen aktivieren. Menschen Arbeit geben. EKD-Texte 75, 2002, www.ekd.de/EKD-Texte/ekd_texte_75_5.html (abgerufen am 20. 10. 2014)