Perspektiefe 55, Dezember 2021

Sterben unsere Innenstädte? Neue Nutzungsmöglichkeiten als Chance

HINTERGRUND: Sind Sie letztes Wochenende „in der Stadt“ gewesen? Ich habe den Sonnenschein genutzt, um durch die Innenstadt von Frankfurt zu schlendern. Auf den ersten Blick ist alles wie früher. Menschenmassen schieben sich durch die Zeil, Touristen bewundern den Römer, und die Freisitze der Cafés und Restaurants sind gut gefüllt.
Doch einiges hat sich verändert. Hier und dort ist ein Leerstand dazugekommen, gerade in den Randlagen. Und die Händler beklagen trotz voller Straßen geringe Umsätze. Ist doch etwas dran an dem Sterben der Innenstädte, das im Zuge der Corona-Pandemie in allen Medien diskutiert wurde? Oder steht den Stadtzentren „nur“ eine grundlegende Transformation bevor?

von: Stefan Heinig, Referat Stadt- und Landentwicklung, s.heinig@zgv.info
„In einem ‚Le­bens­raum Innenstadt‘ bedarf es jedoch künftig einer lösungsorientierten Auseinandersetzung mit den sozialen Kon­flikten. Dazu muss die integrative Kraft der Innenstädte, insbeson­dere ihrer öffentlichen Räume, als Begeg­nungs­ort für alle gesel­l­schaftlichen Gruppen gestärkt werden.“ Stefan Heinig

Begriffsklärung

Worüber reden wir eigentlich, wenn wir von Innenstädten, Stadtzentren oder Stadt­kernen sprechen? Dafür gibt es unterschiedliche Zugänge. Meist ist das Stadtzentrum der Bereich, der früher von den Stadtmauern umschlossen wurde, also der historische Stadtkern. In vielen Städten gibt es die Stadtmauern heute nur noch in Fragmenten, aber die Grenze lässt sich noch durch eine breite Ringstraße oder einen Grüngürtel erkennen. Denn mit dem Wachstum der Städte wurden im 19. Jahrhundert viele alte Wallanlagen geschliffen. Es entstand Platz für neue Nutzungen, vor allem für die damals neuen Formen des Verkehrs. Und so sind heute viele Stadtzentren umschlossen von einem eher trostlosen und für Fußgänger nur schwer zu überwindenden Verkehrsraum. Mit der historischen Entwicklung hängt auch ein kultureller Bedeutungsüberschuss der Innen­städte zusammen. Die Stadtzentren beherbergen die Rathäuser als Orte der Repräsentation und lo­kalen Demokratie, große Kulturhäuser wie Thea­ter, Oper und Museen, aber auch historisch be­deut­same Orte und Gebäude. Sie ermöglichen dadurch Identifikation und Verbundenheit für die Bewoh­ner­schaft der Stadt und der umliegenden Region. Gleichzeitig sind sie soziale Räume, in denen (fast) alle Bevölkerungsgruppen zusammenkommen. Ein weiterer Zugang zum Thema bietet sich mit Blick auf die amerikanischen Städte an. Dort ist die Innenstadt – die „Downtown“ – in der Regel der Bereich mit den höchsten Bodenpreisen. Das spiegelt sich in den meisten Städten in der Bebauung wider, denn angesichts des ökonomischen Drucks wird immer höher gebaut. Die Downtown ist also schon von Weitem als An­sammlung von Hoch­häusern erkennbar. Auch in den deutschen Innen­städten sind die Boden­preise besonders hoch. Allerdings wird dies meist weniger an Hoch­häu­sern, sondern an einer hohen Dichte der Be­bauung deutlich.

Zur Rolle des Einzelhandels

Die hohen Bodenpreise haben in deutschen Städ­­ten auch zu Konzentration von Einzelhan­­dels­nut­zungen in sogenannten „1A-Lagen“ der Innen­städ­te geführt, da der Einzelhandel bisher höchste Miet­preise zahlen konnte. Dabei wurden orts­­ansässige Geschäfte in den vergangenen Jahren im­mer mehr von finanzkräftigeren Filialisten verdrängt. Diese Dominanz des Einzelhandels in den Innenstädten war nicht immer so. Schauen wir rund 100 Jahre zurück, wurden die Stadtzentren relativ gleichberechtigt durch mehrere Funktionen geprägt: Einkaufen, Arbeiten, Wohnen, Repräsen­tation und demokratische Teilhabe, aber auch Kultur und Gemeinschaft. Doch Schritt für Schritt wurde der Einzelhandel dominanter, während Wohnen, Repräsentation und Teilhabe verdrängt wurden. Einen wesentlichen Einfluss auf diese Entwicklung hatte die Schaffung von Fußgän­gerzonen in den Innenstädten ab 1953. Der Raum zum gefahrlosen Bummeln entlang der Schau­fenster führte zur Konzentration des Handels in diesen Lagen und stark steigenden Preisen. Deshalb ist selbst Gastronomie kaum noch in Fußgängerzonen zu finden.

Neue Nutzungsmischung

Vor diesem Hintergrund ist die aktuelle Diskussion um die Zukunft der Innenstädte getrieben von den Entwicklungen im Handel, der besonders von der Pandemie und dem damit verbundenen Lock­down betroffen ist. Der stationäre Einzelhandel in den Sortimenten Bekleidung, Schuhe, Textilien und Lederwaren hat allein 2020 nach Angaben des Handelsverbands Deutschland (HDE) 23 Pro­zent Umsatz eingebüßt. Gleichzeitig hat sich der Um­satz im Onlinehandel 2020 insgesamt um mehr als 20 Prozent erhöht. Die Veränderung des Käu­ferverhaltens und das damit verbundene über­durchschnittliche Wachstum des Online­handels ist jedoch schon seit mehr als 10 Jahren ein in­ten­siv diskutierter Trend. Die Corona-Pan­demie wirkt dabei als Katalysator für bereits begonnene Trans­formationsprozesse. Insofern ge­hen Expertin­nen und Experten seit Längerem davon aus, dass sich der Einzelhandel in Innenstädten verringern, qualitativ verändern und räumlich konzentrieren wird. Angesichts dieser Situation besteht unter Fach­­leuten aus Forschung und kommunaler Pra­xis große Einigkeit darüber, dass die Chance für die Innenstädte der Zukunft in der Stärkung ihrer Unverwechselbarkeit und ihrer Multifunktionalität besteht. Der Uniformität vieler Stadtzentren sollten stärker ihre historischen und baukulturellen Be­sonderheiten, aber auch ihre regional spezifischen Angebote entgegengesetzt werden. „Erlebnis“ ist dabei ein Schlüsselwort. Dabei geht es nicht nur um einen erlebnisorientierten Kon­sum, sondern auch um das soziale und kulturelle Erlebnis. Die veränderte Nutzungsmischung in den Innen­städ­ten durch mehr Wohnen, temporäre Angebote oder neue Bildungsstandorte und Kommunika­tions­räume stärkt den Wandel der Innenstädte von einem Wirtschaftsstandort hin zu einem so­zia­len Ort und ganzheitlichen Lebens­raum, der die Vielfalt menschlicher Bedürfnisse abbildet.

Zukunftsthemen

In diesem Transformationsprozess trifft eine Viel­zahl der aktuellen gesellschaftlichen Fragen wie im Brennglas aufeinander. Dabei hat der Erfolg der Transformation der Innenstädte Aus­wirkungen, die weit über die Grenzen der Zentren hinaus in die gesamte Stadt und Region gehen. Einige dieser Zukunftsthemen seien im Folgenden kurz angerissen. Die Digitalisierung verändert unsere Städte enorm. Offenes WLAN, digitale Information und Orientierung, Sensorik im öffentlichen Raum, digitale Lernorte, hybride Einzelhandels- und Dienst­leistungsangebote und vieles mehr sind Chancen für mehr Lebensqualität. Sie müssen aber von den Städten so eingesetzt und gesteuert werden, dass sie strategisch eine Stärkung des Gemein­wohls bewirken. Gleichzeitig gewinnen analoge Orte der Begegnung im digitalen Zeitalter an Be­deutung, die gerade Innenstädte bieten können.
Damit verbunden ist die Stärkung von Teilhabe und sozialer Gerechtigkeit. Über viele Jahre wurden Armut und Obdachlosigkeit in den Stadt­zentren verdrängt oder ignoriert. In einem „Le­bens­raum Innenstadt“ bedarf es jedoch künftig einer lösungsorientierten Auseinandersetzung mit den sozialen Konflikten. Dazu muss die integrative Kraft der Innenstädte, insbesondere ihrer öffent­lichen Räume, als Begegnungsort für alle gesellschaftlichen Gruppen gestärkt werden. Eine gesellschaftliche Frage, an der sich heute die Gesellschaft spaltet, ist die Ausgestaltung einer zukunftsfähigen Mobilität. In Innenstädten wird dies besonders deutlich, denn es geht um eine gute Erreichbarkeit aus Stadt und Region mit allen Verkehrsarten, aber auch um eine kluge und klimafreundliche City-Logistik. Angesichts der Vielfalt von Mobilitätsangeboten können Innen­städte modellhaft zeigen, wie eine multimodale Zukunft aussehen kann, in der neben dem Fuß­verkehr Fahrrad, Bus oder Auto im Wechsel nach Bedarf genutzt werden. Deutlich wahrnehmbar werden in den Stadt­zentren die Folgen des Klimawandels. Denn durch den hohen Versiegelungsgrad treten Hitzetage und Überflutungen bei Starkregen besonders häufig auf. Deshalb müssen Lösungen entwickelt werden, wie durch Bäume und kleinteilige Grün­flächen, Dach- und Fassadenbegrünung oder auch das Öffnen von Gräben und Gewässern dieser Entwicklung entgegengewirkt werden kann, ohne dass die Spezifik und Nutzungsmischung von Innenstädten beschädigt wird.

Klein- und Mittelstädte

Diese Zukunftsthemen sind nicht nur in den Großstädten von Bedeutung, sondern auch für die Stadtzentren der Klein- und Mittelstädte, wenn auch in etwas anderer und jeweils lokal spezifi­scher Ausprägung. Die Betroffenheit vom Rück­zug des Einzelhandels und von Leerständen ist dann besonders hoch, wenn in bestimmten Sortimenten der letzte Laden vor Ort verschwindet und die Bestellung im Internet unumgänglich wird. Deshalb ist eine Schlüsselmaßnahme für die Stadtzentren der Klein- und Mittelstädte, die Nah­versorgung – heute oft verbannt an autoorientierte Standorte am Stadtrand – zurückzugewinnen. Dadurch kommen wieder mehr Menschen regelmäßig in das Stadtzentrum, wovon auch andere Einzelhändler, Dienstleistung, Gastronomie und Kultur profitieren. Allerdings erfordert die Transformation der Innenstädte hin zu einem multifunktionalen Le­bens­raum in Klein- und Mittelstädten ebenso wie in Großstädten eine Reduzierung der Miet- und Bodenpreise. Wohn- und Gewerbeflächen, Bil­dungsorte und soziale Aufgaben können nicht die hohen Mietpreise erwirtschaften, die bisher durch den Einzelhandel gezahlt wurden.  

Neue Akteurskonstellationen

Die Transformation der Innenstädte ist eine He­rausforderung für die gesamte Stadtgesellschaft. Deshalb braucht es integrative und breit aufgestellte Beteiligungsprozesse, in denen sich alle niedrigschwellig in die Entwicklung neuer Ideen und Konzepte sowie die Umsetzung von Maß­nah­men einbringen können. Bisher waren Runde Ti­sche und Arbeitsgruppen zur Innen­stadtent­wick­lung in den Kommunen meist auf wirtschaftliche Akteure – Immobilieneigentümer, Einzel­händ­ler, Gastronomen und Dienstleister – be­schränkt. Um eine neue Nutzungsvielfalt zu erreichen und In­nenstädte als Lebensorte zu gestalten, bedarf es aber künftig deutlich breiterer Koope­rationen. Bildungsträger, Kulturakteure und zivilgesellschaftliche Gruppen müssen auf Au­genhöhe eingebunden werden. Vor allem gilt es, Menschen zu aktivieren, die visionäre Ideen entwickeln und auch in konkreten Projekten umsetzen können. Der Bund, aber auch viele Länder fördern vor diesem Hintergrund Konzepte, Initiativen und Pro­jekte, die kooperative Impulse zur Transformation der Innenstädte geben. Allein in Hessen wurden im September 2021 27 Mio. Euro Fördermittel für insgesamt 110 Kommunen bewilligt. Aber auch in Rheinland-Pfalz gibt es Fördermöglichkeiten für die Entwicklung der Stadtzentren. Diese Prozesse und Projekte können ein Anknüpfungspunkt für Kirchengemeinden sein, um sich im Sinne einer Gemeinwesenorientierung vor Ort in die Innenstadtentwicklung einzubringen. In vielen Fällen sind Kirchengemeinden auch Akteure in den Stadtzentren, denn sie sind mit ihren Gebäuden, ihren geistlichen und kulturellen Angeboten präsent. Durch eine größere Öffnung und Kooperation können sie einen Beitrag für attraktivere Innenstädte leisten. Sie können sich aber auch gemeinsam mit der Diakonie mit ihrem Blick für die Bedarfe der verschiedenen Men­schen, auch derjenigen mit geringen Einkommen und besonderen Schwierigkeiten, in die Transfor­mationsprozesse vor Ort einbringen.